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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Musiquen.«
    Nicht umsonst hatte seine Großmutter so darauf bestanden, dass er Deutsch lernte. Er konnte den alten Titel lesen …
    Sanja schlug das Buch auf und wurde wieder munter. Es war der Urtext, der Band 14 aus der ersten vollständigen Bach-Ausgabe, Ende des neunzehnten Jahrhunderts erschienen. Alle Ausgaben, die er bislang gesehen hatte, waren bearbeitet. Sie enthielten Striche, Angaben über Tempi, sogar Fingersätze. Nun hatte er den »nackten« Text vor sich, und das war ein überwältigender Eindruck – als wäre er plötzlich ganz allein mit dem Komponisten. Ohne Vermittler. Wie jeder Musiktheoretiker hatte er das Wohltemperierte Klavier natürlich studiert, seine glasklare Einfachheit bewundert, den perfekten Aufbau – von Tonart zu Tonart aufsteigend, C-Dur, c-Moll, cis-Moll. Das dritte Präludium, fiel Sanja ein, hatte Bach erst in c-Moll geschrieben und dann korrigiert, indem er sieben Kreuze davorgesetzt hatte. Und das weiter durch alle vierundzwanzig gängigen Tonarten. Ganz einfach! Übungen für Schüler. Er hatte sie ja auch für seinen halbwüchsigen Sohn geschrieben, um ihm das musikalische Alphabet beizubringen. Ohne alle Kommentare und Anweisungen – spiel, wie du willst, Musikant! Du bist frei!
    Die modernen, von Redakteuren bearbeiteten Noten beschnitten diese Freiheit.
    Sanja geriet in Wallung: Er kannte viele Interpretationen des Wohltemperierten Klaviers , und nun wollte er sie unbedingt noch einmal hören und vergleichen.
    Er besaß eine wunderbare Aufnahme mit Samuil Feinberg. Die hatte Anjuta vor langer Zeit gekauft. Eine vollständige Aufnahme, alle 48 Präludien und Fugen. Auch eine großartige Richter-Einspielung war da, aber die Platten waren schon ziemlich zerkratzt.
    Sanja suchte den Feinberg heraus und legte ihn auf. Kolossow hatte recht – es waren reinigende Töne. Sanja ließ sein ganzes Ich durch diese Musik strömen. Oder die Musik durch sein Ich.
    Eine Woche lang hörte er nur zu und schaute in die Noten. Feinberg war ein Zauberer. Die Meinungen gingen auseinander – manche hoben Glenn Gould für die Präludien und Fugen in den Himmel, für andere war Richter der König und Gott. Doch bei Feinberg herrschte eine solche Trauer, eine solche Zerbrechlichkeit und Zartheit, als sei das ganze Leben bereits vorbei und als wären nur noch diese Modulationen geblieben, der Flügelschlag eines Schmetterlings, nicht das Fleisch, sondern die Seele der Musik.
    Er war kein besonders imposanter Mensch, ein ganz normaler Mann mit Ziegenbärtchen, und noch vor kurzem war er durch die Flure des Konservatoriums gelaufen, und niemand hatte geflüstert: Sieh mal, Samuil Feinberg.
    Im Gegensatz zu Neuhaus oder Richter. Bei deren Erscheinen wurde immer geflüstert.
    Wieder und wieder hörte Sanja Bach, und am Ende der zweiten Woche war er vollkommen geheilt.
    Das letzte Präludium und die Fuge in h-Moll – Bach hatte daruntergeschrieben: »Ende gut – alles gut« .
    Gut, sagte Sanja. Er vertraute Bach.
    Er putzte die Badewanne, ließ Wasser einlaufen, so heiß er es ertragen konnte, blieb lange darin liegen, schnitt sich die Nägel, rasierte sich die Stoppeln ab, die schon als Bart gelten konnten, und zog ein neues Hemd an – er wusste selbst nicht, was er vorhatte. Er schaute in Anjutas Spiegel: Er war dünn geworden, hatte eine interessante Blässe im Gesicht und zwei Schnittwunden am Kinn. Das Telefon klingelte.
    »Hier ist Jewgeni, ein Freund von Pierre. Endlich erreiche ich Sie. Ich würde Sie gern treffen. Am üblichen Ort.«
    Sanja hatte schon fast vergessen, wohin Pierre seine Kuriere immer schickte – mit Büchern, Jeans und Schallplatten.
    Sie trafen sich am Bierkiosk im Kulturpark. Jewgeni hieß Eugene und war ein in Moskau akkreditierter Korrespondent einer amerikanischen Zeitung. Er schlug Sanja in Pierres Auftrag vor, eine fiktive Ehe einzugehen. Sanja, kaum aus seiner tiefen Depression aufgetaucht, reagierte zurückhaltend: War das denn möglich? Eugene erklärte, man müsse es eben versuchen, Pierre suche bereits nach einer geeigneten Kandidatin.
    »Blond oder brünett?« Zum ersten Mal seit Michas Tod lachte Sanja.
    Die Januarfröste, die normalerweise zum orthodoxen Weihnachten oder zum Fest der Taufe Jesu am 19. Januar gehörten, brachen diesmal genau zwischen den Festen herein. Eugene Michaels und Sanja Steklow fuhren auf verschiedenen Wegen zum Flughafen: Eugene mit der Metro bis zur Station Retschnoi woksal und von dort mit einem Taxi, Sanja mit dem Linienbus.

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