Das gruene Zelt
der Liege seiner Großmutter, den starren, vollkommen abwesenden Blick auf den Gobelinstoff des abgewetzten Sofakissens gerichtet, und betrachtete die visuellen Effekte der ineinander verflochtenen farbigen Fäden – blau, gelb, lila –, völlig losgelöst von der konkreten Abbildung, einem Blumenkorb, einem mit einem Band spiralförmig umschlungenen Strauß.
Wann hatte er das letzte Mal das Haus verlassen? Zu Großmutters Beerdigung? Zum Gedenkgottesdienst am vierzigsten Tag? Ja, in der Kirche war Micha noch dabeigewesen, sie hatten nebeneinander gestanden, Micha hatte geweint, Sanja hatte es nicht mehr gekonnt. Seine Fähigkeit zu reagieren war erschöpft, er fühlte nichts mehr, nur noch die schreckliche Fremdheit um sich herum. Erst Großmutter, dann Micha. Geblieben war seine Mutter, die er jedes Mal kaum erkannte. Er ahnte eher, dass sie es war. Zärtlich und vorsichtig kam die brünett gefärbte Nadeshda morgens vor der Arbeit zu Sanja herein, stellte ihm Tee und ein Käsebrot hin. Und abends einen Teller Suppe.
Manchmal aß Sanja, ohne es zu bemerken. Ein Schluck, ein Bissen. Das war alles. Er hätte gern süßen Tee mit Zitrone gehabt. Wie ihn Großmutter für ihn gekocht hatte, wenn er krank war.
Seine Großmutter, das wusste er nun, war in Schönheit gestorben und ihm schön in Erinnerung geblieben. Michas Tod dagegen war schrecklich, widernatürlich. Sanja war auf dem Heimweg von der Metrostation Kirowskaja gewesen, als er an Michas Haus vorbeikam. Wie immer in den letzten Jahren war er dort eingebogen und hatte Micha deshalb als einer der ersten auf der Erde liegen sehen, auf der Steinkante der längst verschwundenen Blumenrabatte, mit zerschmettertem Kopf. In einem karierten Hemd, das Anjuta vor langer Zeit gekauft hatte. Sanja besaß das gleiche … Merkwürdigerweise hatte Micha keine Schuhe an, nur Socken. Um den Körper hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt. Er musste so schnell wie möglich weggeschafft werden.
Jemand deckte ihn mit einem Laken zu. Irgendwer hatte ein altes Laken mit einem großen Flicken in der Mitte von der Wäscheleine genommen.
Sanja wusste bereits, dass Aljona und Maja in einem Dorf bei Rjasan waren, das hatte ihm Micha verstört und voller Bitterkeit erzählt. Nun musste er Aljona ausfindig machen. Wie sollte er ihr das Geschehene mitteilen?
Gleich nach Michas Beerdigung hatte sich Sanja hingelegt. Er schlief, wachte auf, hörte Lastotschkin rülpsen oder reden und das brechreizerregende Gebrabbel des Fernsehers – zu Anjutas Zeiten hatte es in diesem Haus keinen Fernseher gegeben, nein! Um sechs Uhr morgens ging das Radio an, und die Nationalhymne marterte seine Ohren, dann breitete sich Kaffeegeruch aus – seine Mutter kochte den Kaffee im Zimmer, auf dem Petroleumkocher, wie die Großmutter es immer getan hatte. Dann wurde alles still, und Sanja schlief wieder ein, wachte erneut auf, stand auf, weil er zur Toilette musste, und legte sich wieder hin. Seine Mutter war besorgt, stellte ihm Fragen, aber er verstand sie nicht und drehte sich zur Wand.
Er bekam Besuch aus dem Konservatorium. Und noch andere kamen – Ilja? Wassili Innokentiewitsch? Dann erschien Kolossow. Sein Besuch war ein Friedensangebot nach den zahlreichen Konflikten. Im Laufe der Jahre hatte Sanja die Unterstützung seines Lehrers eingebüßt und sich immer weiter von ihm entfernt. Doch nun empfand er statt Freude nur Gleichgültigkeit.
Mit Mühe hielt er das Gespräch aufrecht.
Kolossow legte eine Schachtel Geleefrüchte auf den Tisch und ein prächtig ausgestattetes altes deutsches Buch. Bevor er ging, sagte er, er habe Sanja einen Monat Urlaub genehmigt, er könne in Ruhe eine Weile krank sein, und nichts sei heilsamer für Leib und Seele und zum Auskurieren jeglicher Krankheit als das Wohltemperierte Klavier .
»Was ich Ihnen mitgebracht habe, ist eine große Rarität. Nun, Sie werden sehen …«
Sanja erkannte es zwei Tage später, als er die Hand danach ausstreckte und begriff, was er vor sich hatte: »Das Wohltemperirte Clavier oder Præludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend. Zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib auffgesetzet und verfertiget von Johann Sebastian Bach. p. t: Hochfürstlich Anhalt-Cöthenischen Capel-Meistern und Directore derer Camer
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