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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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der Krankheit verschont geblieben waren. Sie liefen rund drei Stunden durch die Stadt, dann gingen sie noch zu Viktor Juljewitsch nach Hause, Tee trinken. Auf jenen Fotos tauchen zum ersten Mal die beiden Freundinnen Katja Sujewa und Anja Filimonowa auf, die ersten Mädchen, die sich dem bis dahin rein männlichen Zirkel anschlossen.
    Katjas Zöpfe mit den schwarzen Schleifen hängen auf ihrem Mantelkragen, und Anja sieht mit ihrer tief ins Gesicht gezogenen Skimütze aus wie ein Junge; sie hat Pickel auf der Stirn. Die will sie mit der Mütze verdecken, vermutete Ilja. Er bemerkte auch als erster, dass Katja in den Lehrer verliebt war.
    In der Schule trug sie die Zöpfe zu einem hässlichen Kranz gebunden, doch bei den Sitzungen der Ljurssy – so nannten sie die Zusammenkünfte bei ihrem Lehrer zu Hause – löste sie ihr Haar und wurde gleich viel schöner. Sie saß an dem runden Tisch, immer an ein und demselben Platz, das Kinn auf die Hand gestützt; ihr Gesicht war fast gänzlich von Haaren verdeckt, und Micha beugte sich immer tiefer, um es anzuschauen. Sie gefiel ihm sehr, besonders außerhalb der Schule. Aber er mochte auch die kleine Rosa Galejewa aus der Siebten und Soja Krim aus der Parallelklasse.
    Wenn Viktor Juljewitsch Katja ansprach, errötete sie jedes Mal so heftig, dass nur ihre Nase weiß blieb. Katja war verschlossen und schweigsam, nicht einmal ihrer engsten Freundin Anja vertraute sie ihr großes Geheimnis an: Sie hatte sich unsterblich in den Lehrer verliebt, auf den ersten Blick, schon am 1. September, als sie ihn vor dem feierlichen Appell auf dem Schulhof gesehen hatte, von Jungen umringt, lebhaft und lachend.
    Sie lief ihm auf Schulmädchenmanier nach, folgte ihm mit großem Abstand bis nach Hause. Manchmal ging sie abends zu seinem Haus, traf ihn aber kein einziges Mal auf der Straße. Sie entschloss sich, in seinen Zirkel zu gehen, tat es aber erst, nachdem sie Anja ebenfalls dazu überredet hatte, obwohl die sich eigentlich mehr für Volleyball interessierte.
    Im Frühjahr erlebte sie etwas, wovon sie ihrem Mann zwei Jahre später erzählte. Sie hatte eine Karte für Prokofjews Oper Krieg und Frieden im Bolschoi-Theater bekommen. Ganz Moskau wollte diese Aufführung sehen, und Katjas Großmutter hatte dank ihrer weitreichenden Beziehungen eine Karte ergattert und sie der Enkelin überlassen. Nach dem ersten Akt warf Katja aus reiner Neugier einen Blick ins Theatercafé. Dort war es voll und laut, vor der Theke stand eine lange Schlange. An einem Tisch nahe der Tür saß Viktor Juljewitsch. Neben ihm eine schöne Frau orientalischen Typs. Auf dem Tisch lag ein Blumenstrauß. Die beiden unterhielten sich, dann legte er ihr die linke Hand auf die Schulter, und Katja wurde übel. Sie ging nach Hause, ohne sich die Vorstellung zu Ende anzusehen. Ihrer Großmutter sagte sie, sie habe furchtbare Kopfschmerzen bekommen.
    Eine Woche darauf passte sie Viktor Juljewitsch in seinem Hausflur ab und sagte ihm, dass sie ihn liebe. Sie hatte große Angst, dass er sie auslachen würde. Aber er lachte sie nicht aus. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, genau wie jener orientalischen Frau, und sagte sehr ernst, dass er das bereits geahnt habe, aber nicht wisse, wie er damit umgehen solle.
    »Egal. Aber ich sterbe, wenn ich an die Frau denke, mit der Sie im Theater waren. Werden Sie sie heiraten?«
    »Nein, Katja. Ich werde sie nicht heiraten. Sie ist schon verheiratet«, antwortete er vollkommen ernst.
    »Dann heiraten Sie mich!« Damit lief sie davon.
    »Wenn Sie mit der Schule fertig sind«, rief Viktor Juljewitsch ihr nach.
    Die Haustür schlug zu. Er lächelte, schüttelte den Kopf, nahm ein Zigarettenetui aus der Tasche und zog geschickt eine Papirossa heraus. Er konnte vieles mit einer Hand tun – er ließ das Feuerzeug klicken, zündete die Papirossa an. Stand da, rauchte und lächelte. Nachdem ihm der Arm amputiert worden war, hatte er beschlossen, nie zu heiraten, sich nie in die erniedrigende Abhängigkeit von einer Frau zu begeben, und seit über dreißig Jahren mied er die Ehe erfolgreich und floh jedes Mal – feige, entschieden, mal hart, mal sanft –, sobald eine Heirat drohte.
    Doch nun lächelte er. Das Mädchen war entzückend, leidenschaftlich und zugleich kindlich in ihn verliebt, von ihr ging keinerlei Gefahr aus. Noch konnte er nicht ahnen, dass er sie tatsächlich heiraten würde, sobald sie die Schule beendet hatte.
    Das ganze folgende Jahr vertiefte sich die neunte Klasse

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