Das gruene Zelt
nicht sofort verständliche Anmerkungen – er projizierte alles auf die Biologie. Viktor gewöhnte sich mit der Zeit an die unkonventionellen Gedankengänge seines Gegenübers und an seine These von der Universalität des Wissens, an die der einbeinige Kolesnik ihn heranführte. Von ihm lernte der durch und durch geisteswissenschaftlich geprägte Literaturlehrer etwas über die Prinzipien der Evolution, über die Widersprüche des Lamarckismus und des Darwinismus, ja sogar über so technische Einzelphänomene wie Metamorphose, Neotenie und Chromosomenvererbung.
Wenn er nun über seine heranwachsenden Jungen nachdachte, ging ihm auf, wie sehr die Prozesse, die sie durchmachten, der Metamorphose der Insekten ähnelten.
Als unverständige Kinder, menschliche Larven, nahmen sie jede Nahrung auf, die man ihnen anbot, lutschten, kauten und verschlangen alle Eindrücke, dann verpuppten sie sich, und in dieser Puppe wurde alles geordnet und strukturiert – die Reflexe waren ausgebildet, Fertigkeiten erworben, primäre Vorstellungen von der Welt geprägt. Doch wie viele Puppen starben, bevor sie ihre letzte Phase erreichten, bevor sie aus den Nähten platzten und den Schmetterling schlüpfen ließen! Anima, anima, die Seele … Bunt, flugfähig, kurzlebig – und wunderschön. Doch wie viele blieben Larven und lebten so bis zum Tod, ohne zu ahnen, dass sie nie erwachsen geworden waren.
Wygotski sprach in diesem Zusammenhang vom Unterschied zwischen dem Prozess der Herausbildung von Fähigkeiten und dem der Entwicklung von Interessen. Doch Viktor hatte ein anderes Bild im Kopf: Er beobachtete, wie seine Zöglinge die Flügel entfalteten, wie darauf Muster und Inhalte entstanden. Aber warum machten die einen eine Metamorphose durch, wie Insekten mit vollendetem Entwicklungszyklus, andere dagegen gar nicht?
Viktor spürte es rein physisch, wenn bei jemandem die Hornschichten der Puppe aufplatzten, er hörte das Zittern und Rascheln der Flügel und empfand ein Glücksgefühl wie eine Hebamme, die ein Kind entbindet.
Aber warum durchliefen nicht alle diese Metamorphose, sondern eher die Minderheit seiner Zöglinge? Was war das Wesentliche an diesem Prozess? Das Erwachen des moralischen Bewusstseins? Ja, natürlich. Aber warum geschah das bei den einen, bei anderen hingegen nicht? Gab es ein rätselhaftes Modul des Übergangs – ein Ritual, eine Zeremonie? Durchlief der Homo sapiens, der vernunftbegabte Mensch, vielleicht eine Art Neotenie, wie manche Würmer, Insekten und Amphibien, bei denen die Fähigkeit zur geschlechtlichen Fortpflanzung nicht erst bei erwachsenen Individuen eintritt, sondern bereits im Larvenstadium, so dass diese nie erwachsen gewordenen Geschöpfe ebenfalls Larven zeugen, die niemals erwachsen werden?
»Nun, das ist natürlich nur eine Metapher. Mir ist klar, dass meine Unterentwickelten durchaus erwachsene Geschöpfe sind. Imagines sozusagen«, rechtfertigte er sich vor Kolesnik, doch der hatte schon alles erfasst und brauchte keine Erläuterungen.
Kolesnik hob die geschwungenen dichten Brauen und sagte mit gespielter Verwunderung, wobei er das »R« betont rollte:
»Na, mein lieber Literat, du bist ja im vergangenen Fünfjahrplan erheblich klüger geworden! Vielleicht kannst du mir dann mal definieren, was eine Imago ist, ein »erwachsenes« Geschöpf? Was sind die Kriterien des Erwachsenseins?«
Viktor überlegte.
»Nicht nur die Fortpflanzungsfähigkeit. Verantwortung für das eigene Tun vielleicht? Selbständigkeit? Der Grad der Bewusstheit?«
»Das sind qualitative Kriterien, keine quantitativen!« Kolesnik ließ seinen Finger vorschnellen. »Schau mal, wie du das darstellst: Eine Initiation, ein unbestimmtes Etwas, und Verantwortung – wie willst du die messen? Und du meinst, die Larve eines Menschen wird durch eine Initiation zur Imago?«
Viktor blieb hartnäckig.
»Du wirst doch zugeben, Mischa, dass wir in einer Gesellschaft von Larven leben, unerwachsener, unreifer Menschen, die sich als Erwachsene ausgeben?«
»Da ist was dran. Ich werde darüber nachdenken«, versprach Kolesnik. »Du stellst eine rein anthropologische Frage, und die moderne Anthropologie stagniert zur Zeit, das ist das Problem. Aber Elemente von Neotenie lassen sich in der Tat beobachten.«
Viktor las eine Unmenge von Büchern. Er war auf der Suche danach, ob nicht irgendwo und irgendwann das ihm vorschwebende Ritual für den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein praktiziert wurde.
Übergangsrituale
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