Das gruene Zelt
Interessant, interessant. Wie war das mit den Mädchen? Waren sie nur Objekt männlichen Interesses? Wie sah ihre Kindheit aus? Erlebten auch sie jene innere Umwälzung, die den Jungen widerfuhr? Oder war das nur ein Vorgang der reinen Physiologie? Der Biologie?
Im September 1954 geschah etwas Einschneidendes: Die Geschlechtertrennung in den Schulen wurde aufgehoben. Auf den Fotos in Iljas Archiv tauchten nun auch Mädchen auf.
Alle standen Kopf, besonders die erfahrenen Lehrerinnen, die an ihre Jungen gewöhnt waren und in der Anwesenheit von Mädchen eine Gefahr für die Moral sahen.
Die Mädchen erregten alle ungeheuer. Und zwar weniger die konkreten Mädchen als die faszinierende und beängstigende Naturgewalt, die dahinterstand. Die Jungen des Trianons berührten das Thema in ihren Gesprächen kaum, wahrscheinlich wegen Sanja, der nichts »Unanständiges« ertrug, wozu er die verschiedensten Dinge rechnete: physische Unreinheit, schmutzige Reden, Lügen und Neugier. Ilja, der sich in anderer Gesellschaft auch mal Obszönitäten und grobe Scherze erlaubte, passte sich Sanja an. Über Mädchen zu reden vermieden sie schon deshalb, weil die anderen in der Klasse das ständig taten, und zwar mit einem gewissen anzüglichen Unterton. Die drei hüllten sich in Schweigen und folgten damit einem Grundsatz, den sie noch nicht kannten, aber ahnten: Männer, die etwas auf sich halten, sprechen nicht über Frauen.
Die Kleinen in der Schule, die ersten und zweiten Klassen, blieben von der Aufregung unberührt, die achten Klassen aber spielten förmlich verrückt. Ein Mädchen an sich erschütterte ihr Gleichgewicht. Ein Mädchen war an und für sich unanständig. Mädchen trugen Strümpfe, die von Gummis gehalten wurden, und wenn der Saum ihres Schulkleides gelegentlich hochrutschte, sah man es nackt, rosa und hellblau hervorblitzen. Selbst bei dem hässlichsten Mädchen zeichneten sich unter dem Schürzenlatz deutlich erkennbare Brüste ab. Nicht, dass die Jungen das früher nicht gewusst hätten. Sie wussten es natürlich, aber nun war das alles so unerträglich nahe. Und die Sportstunden! Es gab einen Mädchenumkleideraum, in dem sie sich auszogen. Vielleicht splitternackt.
Erregung lag in der Luft wie Staub während einer Renovierung. Alle standen unter Strom, alle wurden vom Fieber der Liebe geschüttelt.
Die Jungen veränderten sich auch äußerlich: Sie trugen nun eine Uniform, ähnlich wie die der früheren Gymnasiasten, Jacke und taubenblaues Hemd. Die meisten bekamen eine Uniform »zum Reinwachsen«, nur Sanjas saß wie angegossen, denn seine Großmutter hatte genau seine Größe gekauft. Obgleich er über den Sommer gewachsen war, konnte er Ilja oder Micha nicht einholen. Doch sonderbarerweise war gerade der kleine Sanja beliebt bei den Mädchen. Briefchen flogen durch den Klassenraum wie gefährliche, aber honigbringende Bienen, nur dass sie nicht summten.
Bis Neujahr waren Sympathien und Antipathien geklärt, und sogar die ersten Liebespaare hatten sich gefunden. Diejenigen, die noch keinen Erfolg in Sachen Eroberung des anderen Geschlechts errungen hatten, setzten große Hoffnungen in die Silvesterfeier.
Mitte Dezember zerplatzten alle Pläne. In der Schule brachen die Masern aus. Es begann in den unteren Klassen, sprang dann auf die Älteren über, und Ende Dezember wurde eine strenge Quarantäne verhängt. Die Schüler durften ihre jeweilige Etage nicht verlassen und nicht einmal die Kantine benutzen. Über ein Drittel der Schüler der 8 a hatte die Masern. Sanja rechnete ständig damit, ebenfalls zu erkranken, musterte jeden Morgen aufmerksam sein Gesicht im Spiegel, konnte aber keinen rötlichen Ausschlag entdecken.
Die Klasse durften sie nur verlassen, um zur Toilette zu gehen. In der großen Pause brachten die Krankenschwester und die Kantinenfrau Piroggen, Rote-Bete-Salat und süßen Tee in den Klassenraum. Anfangs fanden sie das ganz schön, hatten es aber bald über. Das Unangenehmste an dieser Epidemie war, dass die Silvesterfeier ausfiel. Am 31. Dezember wurde Sanja doch noch krank, womit er seine Freunde um ein weiteres, besonders beliebtes Fest brachte – seinen Geburtstag.
Die langweiligen Winterferien verschönte ihnen Viktor Juljewitsch. Normalerweise fielen die Treffen der Ljurssy in den Ferien aus, doch diesmal trafen sie sich fast jeden zweiten Tag. Jedenfalls gibt es in Iljas Archiv viele Fotos aus diesen Tagen. Es waren gut besuchte Ausflüge, daran nahmen alle teil, die von
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