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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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–, das alles musste gut zu sehen sein. Er dachte an einen Blickwinkel, bei dem auch die eingefallene Wange und das lange Ohr mit dem Brillanten im herunterhängenden Ohrläppchen aufs Bild kamen.
    Micha knabberte Zwieback und überlegte, ob es ungehörig wäre, Anna Alexandrowna zu fragen, warum Oberst Trubezkoi nicht mit auf den Senatsplatz gegangen war, seine Freunde also verraten hatte. Aber er genierte sich.
    Anna Alexandrowna stand auf und verschwand hinter dem Wandschirm. Eine Schranktür knarrte, dann kam sie zurück, stellte eine große, mit goldfarbenem Gobelinstoff bezogene Schatulle auf den Tisch und nahm ein wertvolles Buch heraus, 1862 in London erschienen, in Alexander Herzens Freier Russischer Druckerei – Aufzeichnungen der Dekabristen .
    »Hier. Hände waschen, Nase putzen und schön vorsichtig umblättern. Und glaubt nicht alles, was über die Dekabristen gesagt und geschrieben wird.« Sie schien Michas unausgesprochene Frage gehört zu haben. »Unsere russische Geschichte ist ohne Zweifel ziemlich übel, aber diese Zeit war nicht die schlechteste, da war Platz für Edelmut, Würde und Ehre. Sind eure Hände sauber?«
    Micha nahm den Kater respektvoll von seinem Schoß, setzte ihn auf ein Kissen und eilte ins Bad, Hände waschen, um die gedruckte Rarität mit dem gebührenden Anstand zu berühren. Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und las laut vor.
    »Es ist ein belastender Gedanke, dass man einem Menschen zu Dank verpflichtet ist, von dem man eine so schlechte Meinung hatte.«
    »Komm, gib mir mal das Buch.« Anna Alexandrowna warf einen kurzen Blick auf die aufgeschlagene Seite und lächelte triumphierend. »Genau davon rede ich. Das berichtet Sergej Trubezkoi nach dem Verhör. In der Nacht zum 15. Dezember wurde er verhaftet und vom Imperator Nikolai Pawlowitsch persönlich verhört. Der Zar war entsetzt, dass der Fürst, ein Nachkomme der Gediminowitschs, also eines noch edleren Geschlechts, als es die Romanows waren, ›sich mit diesem Gesindel einlassen‹ konnte. Und am Ende des Gesprächs sagte er: ›Schreiben Sie Ihrer Frau, dass Ihr Leben außer Gefahr ist.‹ Das heißt, der Imperator hatte seine Entscheidung schon vor dem Prozess getroffen! Doch Trubezkoi war sich ja seiner großen Schuld bewusst und nahm alles auf sich, selbst den geplanten Zarenmord, den er in Wahrheit entschieden abgelehnt hatte.«
    »Viktor Juljewitsch hat erzählt, alle Dekabristen hätten ausgesagt, hätten ehrlich alles berichtet, weil sie dachten, der Zar würde sie verstehen und seine Politik ändern«, sagte Micha. Er wollte in dieser edlen Runde gern glänzen.
    »Ja, sie haben alles zugegeben. Trubezkoi hat während der Verhöre bittere Reue gezeigt, aber niemanden verraten. Zu Lügen haben sie sich nicht herabgelassen. Und was Sergej Petrowitsch betrifft, so geht aus vielen Memoiren hervor, dass die Verbannten in Sibirien ihn liebten und schätzten. Überhaupt gab es unter den Dekabristen, soviel ich weiß, nur einen einzigen Verräter, Hauptmann Maiboroda. Er hat den geplanten Aufstand drei Wochen zuvor verraten. Genau kann ich das natürlich nicht sagen, vielleicht gab es noch ein oder zwei andere. Bei über dreihundert Personen, gegen die ermittelt wurde! Lest selber nach! Die Vernehmungsprotokolle sind ja alle veröffentlicht. Denunziation war damals nicht in Mode, das ist es!«, sagte Anna Alexandrowna mit Nachdruck, doch diesen Nachdruck bemerkte nur Ilja.
    »Die Geschichte hat etwas vom Evangelium. Maiboroda hat sich erhängt. Viele Jahre später, aber …«
    »Wie Judas!«, rief Micha und offenbarte damit, dass er die Heilige Schrift kannte.
    Anna Alexandrowna lachte.
    »Sehr gut, Micha! Ein gebildeter junger Mann!«
    Nach diesem Lob fasste Micha Mut.
    »Anna Alexandrowna, welcher Dekabrist ist«, er stockte, wollte sagen »der Beste«, aber das erschien ihm zu kindlich, »Ihnen der Liebste?«
    Anna Alexandrowna blätterte in dem Buch. Darin lagen mehrere Reproduktionen. Sie nahm ein irgendwoanders herausgeschnittenes Porträt auf vergilbtem Papier in die Hand.
    »Hier. Michail Sergejewitsch Lunin.«
    Die Jungen beugten sich über das Porträt. Sie hatten dieses Gesicht schon einmal gesehen, in Iljas Sammlung. Aber da war er jung, hatte einen buschigen Schnauzbart und volle Lippen, hier war er rund zwanzig Jahre älter.
    »Sieh mal, die Orden, da, das Kreuz, und daneben noch was, nicht genau zu erkennen«, bemerkte Ilja.
    »Er hat am Feldzug von 1812 teilgenommen. Über die Orden weiß ich

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