Das gruene Zelt
ins neunzehnte Jahrhundert. Aus der Ferne wirkte es äußerst reizvoll. Ihre üblichen Gespräche drehten sich, genau wie im Salon von Sinaïda Wolkonskaja, »um die Literatur«. Und um die Geschichte. Wie im Bericht von Oberst Bibikow.
Die Dekabristen – das Herz der russischen Geschichte, ihre beste Legende – faszinierten sie sehr. Ilja trug sogar eine eigene Porträtgalerie der Dekabristen zusammen (eine weitere Sammlung, die später ihrem Schicksal überlassen wurde), fotografierte ihre Porträts aus Büchern ab und verstand sich bald hervorragend auf das Handwerk der Reproduktion. Eines Tages zeigte Sanja beim Blättern in Iljuschas selbstgemachtem Bildband auf einen schnauzbärtigen Mann mit Strubbelhaaren und sagte leichthin, als sei das etwas ganz Alltägliches und Normales:
»Dieser Lunin war der Bruder einer meiner Urgroßmütter. Großmutter sagt, er war ein Mann ohne Fehl und Tadel. Wir hatten zwei Dekabristen in der Familie. Der zweite ist irgendein Vorfahre von meinem Großvater Steklow … Aber fragt doch Anjuta selbst. Sie erzählt es euch bestimmt. Sie besitzt sogar noch ein paar Briefe.«
Micha und Ilja erstarrten. Was? Und eilten umgehend zu Anna Alexandrowna.
Anna Alexandrowna senkte die Hand mit der Papirossa und hob eine Braue.
»Ja, wir hatten Dekabristen in der Familie.«
Wie alle Menschen ihrer Generation vermied sie Gespräche über die Vergangenheit, selbst wenn sie so weit zurücklag. Doch die Jungen überschütteten sie mit Fragen. Sie antwortete zurückhaltend. Ja, Michail Sergejewitsch Lunin war der Bruder ihrer Urgroßmutter. Und der verstorbene Mann von Sanjas Mutter, Stepan Jurjewitsch Steklow, war ein Nachkomme von Sergej Petrowitsch Trubezkoi. Die Trubezkois seien sehr zahlreich gewesen, eine weitverzweigte Familie. Dieses Haus habe rund hundert Jahre einem Trubezkoi gehört. Sein erster Besitzer hieß Dmitri Jurjewitsch, aber der entstammte einer anderen Linie, nicht derselben wie der Dekabrist. Sie selbst sei nicht blutsverwandt mit Trubezkoi, doch Sanja sei ein Nachfahre der weiblichen Linie …
Micha war empört.
»Und das hast du verschwiegen?«
»Warum hätte ich mich darüber besonders auslassen sollen?« Sanja verzog das Gesicht.
»Na, du bist gut! Da wäre doch jeder stolz drauf!« Micha sah Sanja plötzlich mit anderen Augen. »Wie kannst du! Denk doch nur an Tief in Sibiriens Bergwerksschacht … und all das …«
Diese rührende Begeisterung nervte Sanja, deshalb dämpfte er den Freund brutal. Dicht an Michas Ohr gebeugt, damit Anna Alexandrowna ihn nicht hören konnte, sagte er:
»Klar doch! Tief in Sibiriens Bergwerksschacht sitzt ein Dekabrist und kackt. Jedoch sein Werk ist nicht vergebens – die Scheiße wird zum Humus neuen Lebens!«
Seine Großmutter hatte ihn von klein auf mit diesen Geschichten überfüttert, und er interessierte sich nicht für seine familiären Wurzeln.
Ilja hatte gehört oder geahnt, was Sanja Micha zugeflüstert hatte, und verfiel in sein anhaltendes Lachen – Michas entgeistertes Gesicht war einfach zu komisch. Micha klimperte mit den langen kindlichen Wimpern und sagte mit zitternder Stimme:
»Wie kannst du? Wie kannst du es wagen? Für solche Worte müsste man dich zum Duell …«
Anna Alexandrowna genoss die Szene: Ihr rothaariger Liebling, dessen Vorfahren man in keinem aristokratischen Haus über die Schwelle gelassen hätte, wollte ihren Enkel zum Duell fordern.
»Ihr seid dumme Kinder, auch wenn euch schon ein Schnurrbart sprießt. Setz mal Teewasser auf, Sanja.«
Sanja ging brav in die Küche. Anna Alexandrowna kramte in der Anrichte. Heute war nichts Besonderes darin, nur Kringel und Zwieback. Dennoch roch es, wenn die oberste Tür geöffnet wurde, immer nach Vanille und nach noch etwas anderem, aus der Zeit vor der Revolution, und Micha liebte diesen Geruch sehr.
Den Tee tranken sie still. Micha und Ilja schwiegen, erschüttert von der Entdeckung, dass Menschen, die sie seit langem gut kannten, so erhabene Vorfahren hatten, und weil sie sich für einen kurzen Augenblick selbst der großen Geschichte nahe fühlten.
Ich muss sie alle fotografieren, beschloss Ilja. Anna Alexandrowna, Nadeshda Borissowna und Sanja. Damit die Sammlung vollständig ist. Als erste Anna Alexandrowna, sie stirbt doch bestimmt bald.
Er wollte ein richtiges Porträtfoto machen – die Höckernase, der Haarknoten mit der großen braunen Spange, die kleinen grauen Löckchen, die hinter den langen Ohren auf den faltigen Hals fielen
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