Das gruene Zelt
dieser Art waren viele beschrieben – solche, die mit der Geschlechtsreife zu tun hatten, mit dem veränderten sozialen Status, mit der Aufnahme in eine auserwählte Gemeinschaft von Kriegern, Magiern oder Schamanen, aber er suchte nach etwas, wodurch der Jüngling, eben noch ein zügelloser Flegel, schlagartig in einen kultivierten Zustand wechselte, in den des moralisch verantwortlichen Erwachsenen. Natürlich könnte man einen europäischen Universitätsabschluss, bei dem sich gebildete Herren mit Roben und albernen Hüten verkleideten, als ein solches Zeremoniell betrachten. Aber hatten nicht gerade sie, gebildete Ärzte, Psychologen und Ingenieure, im Dritten Reich das effektivste System zur Vernichtung und zynischen industriellen Verwertung von Menschen entwickelt? Der Umfang verarbeiteten Wissens garantierte keine moralische Reife. Nein, das taugte auch nicht.
Die Lektüre gab zwar keine direkten Antworten auf Viktors Fragen, war aber auch nicht fruchtlos: Er entdeckte uralte Rituale und Zeremonien, natürlich bis zur Unkenntlichkeit entstellt, kastriert und ins Absurde verkehrt, in den Regeln und Gewohnheiten des sowjetischen Alltags; selbst die Aufnahme in die Pionierorganisation, verbunden mit einem Schwur und neuer Kleidung, sah er nun als Parodie auf ein archaisches Sakrament. Allerdings waren es keine neuen weißen Gewänder wie bei den Urchristen, keine Schürzen wie bei den Freimaurern, es war nur ein dreieckiges rotes Halstuch. Aber es war ähnlich, ja, ähnlich.
Schließlich kehrte er zurück zur russischen Klassik, der Quelle, der er bedingungslos vertraute. Er las noch einmal Lew Tolstois Kindheit. Knabenjahre. Jugend ., Alexander Herzens Erlebtes und Gedachtes und Sergej Aksakows Die Kinderjahre des Bagrow-Enkels . Dazu noch Kropotkins Aufzeichnungen eines Revolutionärs und Gorkis Trilogie, bereits jenseits des Goldenen Zeitalters. Sie alle beschrieben, wie qualvoll die kindliche Seele die Welt voller Ungerechtigkeit und Grausamkeit erfährt und wie in ihr Mitleid und Mitgefühl erwachen.
Im Unterricht dann folgte er gemeinsam mit seinen Schülern Nikolenka Irtenjew, Petja Kropotkin, Sascha Herzen, ja sogar Aljoscha Peschkow durch Waisenschicksal, Kränkungen, Grausamkeit und Einsamkeit und führte sie zu Dingen, die er selbst für grundlegend hielt: der Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, und dazu, die Liebe als höchstes Gut zu schätzen.
Sie nahmen seine Anregung auf, fanden selbst wichtige Schlüsselszenen: Garins Seiten über Tjoma, der in einen finsteren, glitschigen Brunnen hinabsteigt wie in die Hölle, um einen hineingefallenen Hund zu retten, über besiegte Angst, über die Katze, die der Hauswart vor den Augen des jungen Aljoscha Peschkow erschlägt und – weiter, weiter! – über die Hinrichtung der Dekabristen, die Alexander Herzen erlebt. Das bewirkte eine Veränderung in ihrem Bewusstsein, oder nicht?
Viktor selbst, notgedrungen an den Schulstoff gebunden, suchte ständig nach dem, was er »Strategie des Erwachens« nannte.
Er vermittelte seinen Schülern alles, was er selbst wusste. Im Grunde einfache Dinge – Ehre, Gerechtigkeit, Verachtung von Gier und Gemeinheit … Und führte sie schließlich an das heran, was er als absoluten Höhepunkt der russischen Literatur betrachtete – er öffnete ihnen die Tür zu dem Zimmer, in dem der fünfzehnjährige Petruscha Grinjow, verführt von der Größe und Qualität des Papiers der Landkarte, beschließt, einen Drachen daraus zu bauen und einen Bastschwanz ans Kap der Guten Hoffnung hängt, während Monsieur Beauprès seinen Rausch ausschläft, worauf der Vater den nachlässigen outchitel hinausschleift, sehr zur Freude des Leibeigenen Saweljitsch.
Grinjow muss grausame Prüfungen bestehen, um seine Ehre und Würde zu bewahren, die ihm teurer geworden sind als das Leben.
Doch eines war seltsam an dieser wunderbaren Literatur: Ausschließlich von Männern geschrieben, erzählte sie nur von Jungen. Für Jungen. Immer ging es um Ehre, Mut und Pflicht. Als sei die gesamte russische Kindheit männlich. Wo war die Kindheit von Mädchen? Wie gering war ihre Rolle! Natascha Rostowa tanzt und singt entzückend, Kitty läuft Schlittschuh, Mascha Mironowa erwehrt sich der Zudringlichkeiten eines Schurken. Die jungen Cousinen und ihre Freundinnen, in die die Jungen verliebt sind, bezaubern durch ihre Locken und Rüschen. Die Übrigen sind unglückliche Opfer, von Anna Karenina bis zu Katjuscha Maslowa und Sonetschka Marmeladowa.
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