Das gruene Zelt
nur, dass sie nach seiner Verurteilung öffentlich ins Feuer geworfen wurden.« Anna Alexandrowna lächelte. »Aber ein Held ist er trotzdem geblieben.«
»Diese Schweine«, platzte Micha heraus. »Kampforden ins Feuer zu werfen!«
»Ja. Er war während des Aufstandes nicht in Petersburg, sondern in Warschau. Dort wurde er verhaftet und nach Petersburg gebracht. Er war einer der Organisatoren des Nordbundes, hatte sich inzwischen aber bereits von den Verschwörern getrennt. Seiner Ansicht nach handelten sie nicht entschlossen genug. Lunin plante die Ermordung des Zaren, doch die anderen waren dagegen. Auch Trubezkoi, der später zum ›Diktator‹ erklärt wurde, war gegen den Zarenmord.«
»Hätte Lunin sie damals überzeugt, hätte die Oktoberrevolution ja hundert Jahre früher stattgefunden!« Michas Augen wurden ganz rund und quollen vor Begeisterung ein wenig hervor.
Alle lachten.
»Nur wäre es dann keine Oktoberrevolution geworden, Micha«, dämpfte Anna Alexandrowna Michas Überschwang.
»Stimmt, wie dumm von mir. Und was ist mit Lunin weiter passiert?«
»Michail Sergejewitsch wurde nach seiner Rückkehr aus der Zwangsarbeit erneut verhaftet, diesmal wegen seiner Briefe. Darunter war auch ein Aufsatz mit einer Analyse der Berichte der Geheimpolizei an den Imperator. Der wurde veröffentlicht, und dafür wurde Lunin ein zweites Mal verhaftet, erneut ins Gefängnis gesteckt, und dort ist er gestorben. Gerüchte behaupteten, keines natürlichen Todes. Vermutlich wurde er auf Befehl des Zaren getötet.«
»Was für eine Niedertracht!«, rief Micha.
Mehrere Tage lang dachte Micha über Lunins Tod nach. Er schrieb ein Gedicht Auf den Tod eines Helden .
Dies war die schönste, heroischste Seite der russischen Geschichte, und an ihr schulten die Schüler unter Viktor Juljewitschs Anleitung Herz und Verstand.
Micha Melamid zitierte in einem Aufsatz Alexander Herzen: »Ich war bei diesem Gottesdienst, und hier, vor dem durch blutiges Gebet besudelten Altar, schwor ich, die Hingerichteten zu rächen, ich weihte mich dem Kampf gegen diesen Thron, gegen diesen Altar, gegen diese Kanonen. Ich habe sie nicht gerächt; die Garde und der Thron, der Altar und die Kanonen – das alles ist geblieben; doch nach dreißig Jahren stehe ich noch immer unter demselben Banner, das ich nie verlassen habe.«
Und dann schrieb der Junge: »Und sie sind bis heute ungerächt geblieben.«
Der Lehrer war gerührt von Michas Aufsatz. Ja, sein Schüler hatte den Moment des Erwachsenwerdens erfasst, die moralische Krise eines Gleichaltrigen, der vor über hundert Jahren gelebt hatte.
Aber das Leben bot natürlich noch mehr als die aufregenden Geschichten über die Dekabristen. Zum Beispiel stand das Neujahrsfest bevor, der wichtigste Feiertag, der einzige nicht staatlich verordnete, der einzige ohne rote Fahnen, ein menschliches Fest, mit rehabilitiertem Tannenbaum, legitimiertem Alkohol (für die Erwachsenen!), mit Geschenken und Überraschungen.
In diesem Jahr gab es keine Epidemien, und alle warteten voller Ungeduld auf die Silvesterfeier. Zwei Wochen vor dem Schulfest am 30. Dezember waren alle schrecklich aufgeregt: Bald würden sich alle Liebessehnsüchte erfüllen.
Es war das erste Fest mit Mädchen, und sie kamen ohne Schuluniform, hübsch angezogen, in Kleidern und Blusen, bunt wie Schmetterlinge, manche mit offenem Haar. Auch die Lehrerinnen hatten sich herausgeputzt. Viktor Juljewitsch registrierte mit einer gewissen Rührung, dass die festliche Aufregung ausnahmslos alle erfasst hatte. Selbst die Direktorin Larissa Stepanowna trug Absatzschuhe und am Revers eine Brosche in Form eines großen Schmetterlings, eines Geschöpfs, mit dem sie nicht das Geringste gemein hatte.
Um ja keinen erlaubten Spaß auszulassen, beschäftigten sich die Schüler der oberen Klassen so lange und gründlich mit der Vorbereitung des Abends, dass sich das Projekt im Laufe des Dezembers mehrfach änderte. Erst sollte es ein Kostümball werden, dann beschlossen sie: keine Kostüme, dafür ein perfekt inszeniertes Laienspielprogramm. Sie diskutierten sogar den Vorschlag, ein richtiges Orchester einzuladen, doch das erwies sich als zu teuer. Also vielleicht ein lustiges Programm oder im Gegenteil was seriöses Kulturelles, mit Schubert, gespielt von Natascha Mirosjan, und Gedichten? Oder eine Art Theaterstück?
Wie immer bei einer solchen Vielzahl von Ideen wurde es schließlich von allem etwas. Wer Lust auf Karnevalsverkleidung hatte, zog
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