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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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klang die Musik aus, ein Walzer. Die Tänzer trotteten wieder zu ihren Plätzen an der Wand. Plötzlich ertönte in der staubigen Stille überraschend laut eine schallende Ohrfeige. Alle drehten sich um. Mitten im Saal stand ein hochgewachsenes Paar – Anja Filimonowa in ihrer albernen Zigeunerverkleidung und Jura Burkin. Anja hatte ihr Tuch abgenommen und an die Brust gepresst, Jura presste eine Hand auf seine Wange, wo die Spur der Volleyballhand seiner resoluten Dame aufblühte.
    Eine Szene, die von Gogol hätte sein können. Aber es fiel kein Vorhang. Alle erstarrten und warteten auf den Fortgang der Ereignisse. Und der folgte: Jura nahm die Hand von der Wange, schwang sie leicht zur Seite und schlug sie klatschtend ins Gesicht seiner Partnerin.
    Ein allgemeines »Ah!« ertönte, Katja rannte zu ihrer Freundin, alle gerieten in Bewegung, alle waren aufgeregt. An Katjas Schulter schluchzte die tiefrot angelaufene Anja. Durch das Schluchzen hindurch drang abgerissen ihre tiefe, klagende Stimme:
    »Er … er hat … sich in das Tuch … geschneuzt!«
    Jura rannte aus dem Saal. Katja schaute sich um.
    »Ist denn hier keiner, der ihre Ehre verteidigt …« Sie war bleich und voller Zorn, man sah ihr an, dass sie drauf und dran war, den Beleidiger in Stücke zu reißen. Das ganze Jahr hatten sie von nichts anderem geredet als von edlen Männern und schönen Damen!
    Micha stürmte aus dem Saal wie auf Flügeln. Er erwischte Jura auf der Jungentoilette, wo er mit zitternden Händen eine Papirossa seines Vaters rauchte, die er ihm gestern Abend stibitzt hatte. Er rauchte eigentlich nicht, vom Rauchen wurde ihm schlecht. Seit der sechsten Klasse probierte er es immer wieder, konnte sich aber nicht daran gewöhnen. Doch das Rauchen an sich gefiel ihm, und jetzt spürte er, dass ihm diesmal nicht übel werden würde.
    Micha riss ihm die Papirossa aus der Hand, brach sie entzwei, schleuderte sie beiseite und sagte kalt, ruhig und voller Verachtung:
    »Duell! Ich fordere zum Duell!«
    Er hatte sagen wollen »Sie«, aber das erschien ihm zu albern. Aber »dich« passte irgendwie auch nicht.
    »Was soll das, Micha, spinnst du? Sie versteht einfach keinen Spaß, die dumme Gans. Blöde Zigeunerin! Was denn für ein Duell?«
    »Schießen können wir nicht, wir haben keine Pistolen. Überhaupt keine Waffen. Also ein Faustkampf, aber nach allen Regeln!«
    »Spinnst du, Micha?«
    »Du bist also auch noch ein Feigling. Nicht nur ein Flegel«, sagte Micha betrübt.
    »Na schön, wenn du es unbedingt willst«, gab Jura widerwillig, aber durchaus friedfertig nach. »Und wann?«
    »Heute.«
    »Aber Micha, es ist doch schon halb zehn.«
    Micha mobilisierte alle seine organisatorischen Fähigkeiten, und das Duell fand eine Stunde später im Miljutin-Garten statt.
    Die Schüler der zehnten Klasse versuchten Jura davon abzuhalten, die der neunten Micha. Die Regeln wurden rasch improvisiert.
    Jura nörgelte den ganzen Weg über:
    »Micha, was hast du von so einer Prügelei? Ich muss nach Hause, mein Vater wird meckern, und meine Mutter ist bestimmt schon in die Schule gerannt.«
    Aber Micha blieb unbeugsam.
    »Ein Duell! Bis zum ersten Blutstropfen!«
    Ilja und Sanja wechselten einen Blick, zwinkerten sich zu, lachten sogar leise. Sanja flüsterte: »Unser kleiner Jesus Christus!«
    Sekundanten waren Ilja für Micha und Waska Jegorotschkin für Jura. Im Park lag viel Schnee, und die Sekundanten trampelten eine kleine Fläche für den Kampf fest. Sanja forderte die Duellanten auf, Lederhandschuhe anzuziehen, doch etwas so Luxuriöses besaß niemand. Aber Sanja war überzeugt, dass sie nicht mit bloßen Händen kämpfen durften.
    »Die alten Griechen haben die Hände mit Lederriemen umwickelt!«
    Wie kam er darauf? Aber es klang glaubhaft. Riemen hatten sie mehr als genug. Die Sekundanten zogen die Gürtel aus der Hose, verbanden je zwei miteinander und legten sie in den Schnee, als Grenzlinien. Dort sollten die Duellanten Aufstellung nehmen und bei »drei« anfangen.
    Die Duellanten wickelten sich ihre Gürtel um die Hände, mit der Schnalle nach innen. Das war sehr unbequem.
    »Vielleicht lieber ohne Riemen?«, schlug Jura vor.
    Micha würdigte ihn keiner Antwort.
    Ilja forderte Jura auf, sich zu entschuldigen.
    Micha lehnte das mit dem Argument ab:
    »Entschuldigen muss er sich bei der Dame.«
    Jura war hocherfreut.
    »Aber gern! Von mir aus sofort!«
    Wegen der Abwesenheit der Dame wurde eine Versöhnung verworfen.
    Micha nahm die Brille ab

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