Das gruene Zelt
etwas Lustiges an. Katja Sujewa verwirklichte einen langgehegten Plan und erschien als Postbotin, mit einer Schaffnertasche, die als Posttasche herhalten musste. Auf ihrer Brust baumelte ein mit Bronzefarbe angestrichenes Pappschild mit der Zahl 5, das das entsprechende Messingschild darstellte, und auf dem Kopf trug sie anstelle der blauen Uniformmütze einen Dreispitz aus Zeitungspapier. Für die Begriffsstutzigen hatte sie sich ein blaues Pappschild mit der weißen Aufschrift Post auf den Rücken gehängt. Ihre Freundin Anja Filimonowa war als Zigeunerin verkleidet: bunter Rock, Ringe in den Ohren, eine selbstgemachte Kette und ein großes Tuch, das ihre Mutter aus einer Truhe geholt hatte, mit der Ermahnung, Anja solle gut darauf aufpassen, denn es sei sehr alt. In der Hand hielt Anja ein Kartenspiel, das sie zum Wahrsagen benutzen wollte. Aber das traute sie sich nicht. Eigentlich hatte sie sich gar nicht verkleiden wollen, aber Katja hatte sie überredet – sie wollte nicht die Einzige sein.
Geplant waren außerdem eine Gedichtcollage und eine Gymnastikpyramide Tannenbaum , einstudiert von der gesamten Gymnastiksektion. Zwölf Personen sollten aufeinanderklettern und einen geschmückten Tannenbaum darstellen.
Der hinkende Werklehrer Itkin hatte seine Ordensbänder ans Jackett geheftet, und der Sportlehrer Andrej Iwanowitsch trug zum ersten Mal nicht seine übliche blaue Trainingsjacke mit Reißverschluss, sondern einen festlichen weißen Pullover. Beide dufteten nach Parfüm – der Werklehrer nach Troinoi, der Sportlehrer nach Chypre. Platten mit alten Schlagern wurden aufgelegt, nach denen höchstens dressierte Zirkusbären hätten tanzen können. Doch als Rio Rita erklang, bewegten die Mädchen die Füße, aber niemand traute sich auf die Tanzfläche, bis der Sportlehrer die Pionierleiterin aufforderte. Die beiden tanzten als Einzige – unter den missbilligenden Blicken der älteren Kollegen. Gerettet wurde die Situation von Tasja Smolkina aus der Neunten, die Mitglied des Komsomolkomitees war; sie regte einige Gesellschaftsspiele an wie Goldene Brücke und Ringlein, Ringlein für die Jüngeren und Post für alle, die Liebeshoffnungen an diesen Ball knüpften.
Die Postbotin Katja verteilte Zettel mit Nummern, und alle schrieben Briefchen. Katja streifte durch den Saal und trug die Post aus. Viktor Juljewitsch stand am Fenster und wollte in einem günstigen Moment auf eine Zigarette im Lehrerzimmer verschwinden. Kurz vor der Tür passte die Postbotin ihn ab und gab ihm gleich zwei Briefe. Er steckte sie ein. »Ich liebe Sie« stand in dem Brief ohne Absender, »Mögen Sie die Prosa von Pasternak?« im zweiten, mit dem Absender Nr. 56.
Viktor Juljewitsch ging hinunter ins Lehrerzimmer, wo zwei blutjunge Grundschullehrerinnen – die eine hübsch, die andere weniger – tuschelten und kicherten wie Schülerinnen. Offensichtlich erwarteten auch sie von diesem Fest weibliche Freuden, ein Quentchen Glück.
Viktor Juljewitsch zerriss den Liebesbrief und warf die Fetzen in den Aschenbecher. Die Schülerinnen der oberen Klassen waren in zwei Lager gespalten – ein Teil schwärmte für Viktor Juljewitsch, der andere, kleinere, bevorzugte den Sportlehrer. Der Literaturlehrer entfaltete den zweiten Brief – er war in runder Mädchenschrift verfasst, mit hartem Stift, sehr blass. Er nahm die Herausforderung an und antwortete: »Bis auf Shenja Lüvers’ Kindheit «, faltete den Zettel zusammen, schrieb die Adresse Nr. 56 darauf und dachte nach: Er hatte geglaubt, in der russischen Literatur gäbe es nichts über die Kindheit von Mädchen. Wie hatte er diese frühe Erzählung Pasternaks vergessen können? Er hatte sie noch vor dem Krieg gelesen, als Jugendlicher, und sie nicht gemocht, er fand sie verworren, vage, undurchschaubar gebaut, zu wortreich. Aber das war vermutlich das einzige Buch über eine Mädchenkindheit in der russischen Literatur. Wie hatte er es vergessen können? Es enthielt alles, was ihn jetzt beschäftigte: das Erwachen des Bewusstseins, die psychologische Katastrophe eines nicht auf das gewaltige physiologische Ereignis vorbereiteten Mädchens und das erste Erleben von Tod! Er verspürte den Wunsch, es sofort noch einmal zu lesen, unverzüglich. Er besaß keine Prosa von Pasternak. Er würde wohl in der Leninbibliothek suchen müssen …
Viktor Juljewitsch ging in den Saal und gab der herbeieilenden Postbotin Katja den Brief. Er hatte Schubert und die Gymnastikpyramide verpasst. Gerade
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