Das gruene Zelt
und gab sie Sanja. Sie warfen die Mäntel ab.
»Vielleicht reicht das jetzt?«, flüsterte Sanja.
»Hier, halt mal«, blaffte der in Wallung geratene Micha.
Ilja begann zu zählen. Bei »drei« traten die Duellanten aufeinander zu.
Sie standen voreinander, der kräftige Jura und Micha, schmächtiger, aber wütender. Micha hüpfte einmal auf der Stelle und schlug Jura mit beiden Fäusten zugleich ungeschickt und nicht sehr schmerzhaft ins Gesicht.
Nun wurde Jura endlich wütend. Er versetzte Micha einen einzigen Fausthieb auf die Nase. Das erste Blut floss sofort. Sanja stöhnte, als wäre er geschlagen worden, und holte ein frisches Taschentuch hervor. Der Schlag war gar nicht so heftig gewesen, aber gut gezielt.
Fortan war Michas Nase ein wenig schief. Es tat lange weh. Vermutlich war das Nasenbein gebrochen.
Das Duell konnte als beendet betrachtet werden.
Als alle Schüler gegangen waren, beendeten die beiden jungen Lehrerinnen und Andrej Iwanowitsch gesittet ihr kleines Trinkgelage, außerdem war die Garderoben- und Putzfrau noch da, die manchmal, wenn ihr Mann sich sehr betrank, in ihrem Kämmerchen übernachtete. Katja Sujewa, nun ohne den Dreispitz aus Zeitungspapier, in einem braunen Mantel, dessen Saum und Ärmel mit schwarzem Stoff verlängert worden waren, saß auf dem Stuhl der Garderobenfrau und wartete auf Viktor Juljewitsch.
Als er herunterkam, reichte sie ihm einen Zettel.
»Ein Brief für Sie.«
Er sah sie verständnislos an – er hatte das Spiel schon vergessen.
»Ah, ja, danke.« Zerstreut steckte er den Zettel in die Manteltasche.
Er fand ihn am nächsten Morgen.
»Ich kann Ihnen seinen neuen Roman geben. Möchten Sie? Katja.«
Er erinnerte sich nicht gleich, von wem die Rede war.
Am 3. Januar rief Katja ihn an und brachte ihm, noch immer ein wenig in der Rolle der Postbotin, ein mit Schreibmaschine getipptes Manuskript.
Der neue Roman von Pasternak hieß Doktor Shiwago . Die ersten Seiten – die Beerdigung von Maria Nikolajewna Shiwago – beeindruckten Viktor Juljewitsch zutiefst. Dies war eine Fortsetzung jener russischen Literatur, die er für absolut vollkommen und universell hielt. Nun hatte diese Literatur also einen neuen, zeitgenössischen Trieb hervorgebracht. In jeder Zeile des neuen Romans ging es um die gleichen Themen – die Qualen der menschlichen Seele im Diesseits, das Werden des Menschen, physischen Tod und moralischen Sieg, kurz – um »Schöpfertum und Wunderkraft« des Lebens.
Die gesamten Ferien vertiefte sich Viktor Juljewitsch in Pasternaks Roman. Er war bezaubert von den Gedichten, die so ungeschickt und unnötig ans Ende gehängt waren – erkennbar Pasternak-Verse, aber zugleich neu in ihrer Schlichtheit. Das war offenbar die »unerhörte Einfachheit« von der der Dichter seit langem träumte …
Nachdem er den Roman ausgelesen hatte, begann er noch einmal von vorn. Er fand immer neue Schätze an Gedanken, Gefühlen und Worten, entdeckte aber zugleich Schwächen, und auch diese Schwächen waren ihm sympathisch. Sie regten zum Nachdenken an. Die schematische Lara, die ständig Dinge tat, die von ihrer Dummheit und Selbstsucht zeugten, gefiel Viktor Juljewitsch nicht. Aber wie sehr sie der Autor mochte!
Viktor Juljewitsch fragte sich, ob eine derartige Häufung von Zufällen und überraschenden Begegnungen nötig war, bis ihm aufging, dass sich alles in der Szene des Todes von Juri Shiwago wunderbar miteinander verknüpfte, in der parallelen Bewegung der Straßenbahn mit dem sterbenden Shiwago und von Mademoiselle Fleurie, die ohne Eile in dieselbe Richtung geht, ihrer Befreiung entgegen – der eine verlässt die Welt der Lebenden, die andere verlässt die Welt ihrer Sklaverei.
Ein großartiges Postskriptum zur klassischen russischen Literatur, lautete Viktor Juljewitschs Resümee.
Am 10. Januar, dem letzten Ferientag, rief er Katja an. Sie trafen sich vor dem Stoffgeschäft auf der Soljanka-Straße. Er dankte dem Mädchen für das große Glück, das sie ihm bereitet habe.
»Als ich den Roman gelesen hatte, wusste ich sofort, wem ich ihn unbedingt geben muss.«
Und dann erzählte sie ihm, wonach er sie auf keinen Fall gefragt hätte: Woher sie das Manuskript hatte.
»Meine Großmutter ist seit Urzeiten mit Boris Leonidowitsch befreundet. Sie hat den Roman abgetippt. Das ist Großmutters Exemplar.«
Viktor Juljewitsch verschloss ihr mit heißer Hand den schwatzhaften Mund.
»Erzählen Sie das niemandem, niemals. Auch mir haben Sie das nicht
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