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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Mensch wurde – und Schüler, die ihn mit ihrer Begeisterung in ungeahnte Höhen hoben. Er lächelte im Schlaf, und er lächelte, wenn er erwachte.
    Das Land führte derweil sein eigenes, irrwitziges Leben – erst das unsichtbare Gezänk an Dshugaschwilis Sarg, der heimliche Kampf um die Macht, die Rückkehr der ersten Tausenden von Lagerhäftlingen und Verbannten, dann der unerklärliche, unerwartete 20. Parteitag, und schließlich Beginn und Ende der Ereignisse in Ungarn.
    Viktor Juljewitsch, ganz versunken in seinen neuen Zustand, verfolgte das Geschehen nur mit einem Auge. Das »Innere« war ihm zu dieser Zeit wichtiger als das »Äußere«.
    Im September, in den ersten Unterrichtstagen, steckte die Pionierleiterin Tassja Worobjowa, eine hübsche Abendstudentin des pädagogischen Instituts, mit der sich Viktor Juljewitsch gut verstand, ihm einen Packen anonymer Flugblätter mit einer Abschrift von Chrustschows Rede auf dem 20. Parteitag zu. Obwohl dieser inzwischen schon ein halbes Jahr zurücklag, war sie noch nirgends veröffentlicht worden. Diese halbwahre, vorsichtige Rede wurde nur über die höchsten Parteikanäle verbreitet, einfache Parteimitglieder wurden darüber auf Versammlungen lediglich mündlich informiert. Der Text galt als »streng geheim«. Die alte sowjetische Phantasmagorie: eine Geheimrede für einen Teil des Volkes, der sie vor dem anderen Teil verborgenhalten sollte. Ein Staat mit einer Geistesstörung.
    Aufmerksam las Viktor die Rede, über die so viel gesprochen wurde. Interessant, sehr interessant. Vor ihren Augen vollzog sich Geschichte. Der Tyrann war gefallen, und drei Jahre später wagte die Meute, die Stimme gegen ihn zu erheben. Wo wart ihr denn früher, ihr Schlauen? Dieses Dokument mit seinen weitreichenden Folgen war im Grunde eine schreckliche Bloßstellung der Parteiführung des Landes. Die Rede ging von Hand zu Hand und wurde zum ersten illegalen Erzeugnis des Samisdat, der damals noch keinen Namen hatte.
    Abschriften von Chrustschows Rede kursierten in ganz Moskau, für Doktor Shiwago aber war die Zeit noch nicht reif. Doch die Gedichte aus dem Roman waren bereits in Umlauf.
    Seltsam, dachte Viktor Juljewitsch, wie zu Puschkins Zeiten gehen Abschriften von Gedichten von Hand zu Hand. Was für eine Veränderung! Wer weiß, womöglich wird bald auch niemand mehr eingesperrt!
    Das Volk erwachte aus seiner Angststarre, flüsterte mutiger miteinander, hörte »Feindsender«, tippte ab, fotokopierte. Der Samisdat verbreitete sich im Land, fand immer mehr begierige Leser und sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als wichtiges Phänomen des Geisteslebens etablieren.
    Chrustschow hatte mit seiner Entlarvung des Personenkults um Stalin alles derartig aufgewühlt, dass statt der früheren Klarheit nun eher Unklarheit herrschte. Alle verharrten abwartend. Auch das weitere Schicksal des Literaturlehrers, der seine Schülerin geheiratet und vorzeitig mit ihr ein Kind gezeugt hatte, war trotz aller Bemühungen der Schulleitung noch immer ungewiss.
    Doch schließlich wurde der Fall entschieden. Die Kreisschulbehörde urteilte strenger als das Parteikreiskomitee. Sie verfügte, den Lehrer zu entlassen, allerdings sollte er erst seine Klasse zum Abschluss führen. Um ihn nicht zu verschrecken, wurde ihm die Entscheidung vorerst nicht mitgeteilt – wer sollte ihn ersetzen, wenn er mitten im Schuljahr wegging? Viktor Juljewitsch wurden vage Gerüchte zugetragen, aber er hatte inzwischen selbst beschlossen, zum Schuljahresende zu kündigen.
    Im Frühjahr 1957 wurde der Zirkel der Ljurssy zum Vorbereitungskurs für die Aufnahmeprüfungen – drei Viertel der Klasse wollten sich an der philologischen Fakultät bewerben. Micha besuchte die Stunden regelmäßig, obwohl er in Literatur Klassenbester war. Er wusste, dass an der philologischen Fakultät keine Juden genommen wurden, aber er wusste auch, dass etwas anderes für ihn nicht in Frage kam.
    Sein älterer Cousin Marlen verspottete ihn und bot ihm Unterstützung für eine Bewerbung am Institut für Fischereiwirtschaft an; er versicherte, Fischerei sei für einen Juden ein weit anständigeres Handwerk als die russische Literatur, womit er Micha zur Weißglut brachte.
    Zu dieser Zeit erreichte das Gerücht, dass man Viktor Juljewitsch aus der Schule werfen wolle, seine zehnte Klasse. Es hieß, die Lehrer hätten eine Denunziation verfasst, weil er seine ehemalige Schülerin geheiratet hatte. Die Schüler waren drauf und dran, sich

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