Das gruene Zelt
mündlich und schriftlich an diverse Instanzen zu wenden, um ihren geliebten Lehrer zu verteidigen. Nur mit Mühe konnte er ihnen klarmachen, dass er selbst vorhabe, die Schule zu verlassen, weil er seit langem wissenschaftlich arbeiten und ein Buch schreiben wolle. Sie müssten doch am besten verstehen, dass er die Schulhefte, die alten Glucken von Lehrerinnen, die Politinformationen und all diesen Blödsinn satthabe; nur ihretwegen, wegen seiner geliebten Ljurssy, habe er die Schule nicht gleich nach seiner Heirat aufgegeben.
»Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich mir ja meinen Nachwuchs herangezogen. Ihr wisst selbst, wie viele junge Leute aus unserer Schule in einigen Jahren Literaturlehrer sein werden.«
Das stimmte. Seit er an dieser Schule arbeitete, ging die Hälfte jedes Jahrgangs an die philologische Fakultät, manche an die Uni, manche ans pädagogische Institut. Die schwächeren Mädchen wurden Bibliothekarinnen oder Archivarinnen. Eine kleine, aber feine Schar beherrschte nun die seltene Kunst, Puschkin und Tolstoi zu lesen. Viktor Juljewitsch war überzeugt, dass seine Schüler ausreichend gerüstet waren, um den Abscheulichkeiten ihres Lebens zu trotzen, den bleiernen wie allen übrigen. Darin jedoch irrte er womöglich.
Weit emsiger als auf die letzten Prüfungen bereiteten sich die Ljurssy nun auf den Abschlussball vor. Sie planten ein großartiges Spektakel. Vorab war verkündet worden, dass keinerlei Alkohol erlaubt sei. Einerseits war dieses Verbot leicht zu umgehen, andererseits kümmerte es sie wenig. Das Wichtigste war für sie alle, dass der Abschied von der Schule ein Abschied von Viktor Juljewitsch sein würde – ein doppelter Abschied, weil er zusammen mit seiner Abschlussklasse ebenfalls die Schule verließ.
Die Schüler hielten ihre Vorbereitungen geheim, aber Viktor Juljewitsch ahnte, dass etwas Großes bevorstand, denn er hatte gehört, dass mehrere Jungen, anstatt sich fleißig auf die Prüfungen vorzubereiten, ganze Tage und Nächte im Atelier des Bildhauers Losowski verbrachten, des Vaters von Wolodja Losowski, und dort an etwas Grandiosem werkelten.
Ilja vergrößerte Fotos und fertigte daraus Schattenbilder, die auf die Wand projiziert wurden. Eine originelle Bühnenbildgestaltung, auf die vor ihm noch niemand gekommen war.
Micha hatte die Schulbücher beiseitegelegt und schrieb ein Theaterstück in Versen. Es hatte eine Unzahl handelnder Personen, von Aristophanes bis zum dummen Iwanuschka, von Homer bis zu Ehrenburg.
Als die Prüfungen erfolgreich absolviert waren, kam der Tag des Abschlussballs. Dieses alljährliche Ereignis hatte seine festen Rituale. Den Mädchen wurden extra Kleider genäht, sogar in Weiß. Sie ließen sich aufwendige Frisuren machen, färbten sich die Wimpern, und auch Nylonstrümpfe waren an diesem Abend erlaubt.
Es war die Generalprobe für den klassischen Debütantenball, den die meisten nie erleben würden, die trügerische Verheißung eines immerwährenden Lebensfestes, das auch nie kommen würde, der Abschied von der Schule, der für alle ohne Ausnahme Anlass zur Freude war, an diesem Tag jedoch mit verklärt-romantischen Tönen aufgeladen wurde.
Auf den Stuhlreihen saßen die Eltern, vor allem die Mütter, ebenfalls herausgeputzt und nicht minder aufgeregt als ihre Kinder.
Als endlich fast alle Platz gefunden hatten, gab es einen unangenehmen Zwischenfall. Zwei Schüler der neunten Klasse, Maximow und Tarassow, hatten sich unter die Absolventen geschmuggelt und beabsichtigten, heimlich an dem nicht für sie bestimmten Fest teilzunehmen. Sie wurden mit Schimpf und Schande hinausgejagt und entfernten sich beleidigt.
Dann begann der feierliche Teil. Die Reifezeugnisse wurden ausgeteilt, Reden gehalten. Als erstes kamen die Absolventen mit den Medaillen an die Reihe, das waren in diesem Jahr vier – dreimal Silber und einmal Gold. Die Goldmedaille hatte sich Natascha Mirsojan erarbeitet, eine orientalische Schönheit und Streberin. Die Silbermedaillen bekamen Polujanowa, Gorschkowa und Steinfeld, der seinen Spitznamen »Bedankt« schon in der Unterstufe bekommen hatte, weil er anstelle des üblichen, aber wenig benutzten »danke« immer »sei bedankt« sagte.
Das Trianon hatte keine Medaillen erhalten. Die Leistungen der drei waren durchweg gut, aber nie überragend gewesen.
Nach dem feierlichen Teil kam es zu einer Stockung. Laut Plan sollte nun die Theatervorstellung beginnen, doch das klappte aus diversen Gründen nicht, es war noch
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