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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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erzählt.«
    Seine Hand lag noch auf ihren Lippen, und sie bewegten sich, als flüsterten sie lautlos.
    Katja war gerade siebzehn geworden. Sie war knapp der Kindheit entwachsen und hatte noch viel Kindliches an sich. Der nackte lange Hals ragte aus dem Mantelkragen. Sie hatte keinen Schal um. Auf dem Kopf trug sie eine Kindermütze mit Bändern unterm Kinn. In ihren hellbraunen Augen schimmerten Tränen; sie war gekränkt.
    »Ich hab das doch niemandem – nur Ihnen. Ich wusste, es würde Ihnen gefallen. Das stimmt doch?«
    »Und ob, Katja. Und ob. Solche Bücher verändern das Leben. Ich bin Ihnen auf ewig dankbar.«
    »Wirklich?« Sie blickte auf, ihre Augen leuchteten.
    Mein Gott, das ist ja Natascha Rostowa! Eine echte Natascha Rostowa!
    Es verschlug ihm den Atem.
    Als Katja die Schule beendet hatte, heirateten sie. Als erstes erfuhren das natürlich die Ljurssy. Sie waren begeistert. Katjas Bauch war für aufmerksame Augen schon im September erkennbar, und er versetzte die Ljurssy in zusätzliches Entzücken.
    Dieses Ereignis brachte sie ihrem Lehrer so nahe, dass sie nach ihren Zirkelzusammenkünften manchmal noch eine Flasche guten georgischen Wein mit ihm tranken, an dem es in Viktor Juljewitschs Haus nie mangelte. Sie nannten ihn nun sogar Viktor, nicht nur hinter seinem Rücken. Und er hatte nichts dagegen, blieb aber im Umgang mit ihnen beim altmodischen, respektvollen Sie.
    Die Sitzungen des Zirkels der Liebhaber der russischen Literatur fanden weiterhin in Xenia Nikolajewnas Zimmer statt, doch Viktor Juljewitsch lebte jetzt in der Wohnung eines Verwandten von Katja, der in den hohen Norden gegangen war und ihnen seine Wohnung an der Metrostation »Belorusskaja« überlassen hatte, in einem Eisenbahnerhaus, mit Fenstern auf Gleise und Durchsagen rund um die Uhr: Abfahrt des Zuges, Ankunft des Zuges …

Der letzte Ball
    Das waren Viktors beste Jahre: eine interessante Arbeit, eine Generation von Schülern, eine zeitweise glückliche Ehe. Sogar ein gewisser Wohlstand stellte sich ein, denn er gab nun zweimal die Woche privaten Nachhilfeunterricht.
    Er arbeitete sehr viel, aber die Ljurssy trafen sich nach wie vor jeden Mittwoch bei ihm. Der Abschlussjahrgang 1957 war sein liebster, er war seit dem sechsten Schuljahr ihr Klassenlehrer gewesen, kannte alle Mütter und Väter, Omas und Opas, Brüder und Schwestern seiner Schüler. Der Altersunterschied von fünfzehn Jahren spielte eine immer geringere Rolle.
    Ende 1957 wurde Viktors Tochter geboren – am 1. Dezember brachte Katja ein Achtmonatskind zur Welt, ein winziges, wohlproportioniertes Mädchen von zwei Kilogramm. Sie nannten sie Xenia, nach der Großmutter. Doch auch dieser diplomatische Schachzug war kein ausreichendes Pflaster für die Herzenswunde, die die Heirat des Sohnes Xenia Nikolajewna geschlagen hatte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass eine andere Frau ihm Frühstück machen, sich abends mit ihm unterhalten, auf seine Rückkehr aus der Schule warten und ihn morgens wecken würde. Zudem empfand sie für Katja eine besondere Antipathie – eine Art biologische Abwehrreaktion, das Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter! – und meinte, die Minderjährige habe ihren Sohn verführt und hintergangen, kurz, ihn zur Heirat gezwungen.
    Das Pädagogenkollektiv sah das anders. Das Lehrerzimmer explodierte schier vor Klatsch, Gerede und Gerüchten, die im Kreis von Lehrern, genauer, Lehrerinnen, bisweilen besonders bösartig und schmutzig sind. Und als Viktors Tochter geboren wurde, schnappte das Kollektiv vor Schadenfreude fast über. Die Mathelehrerin Vera Lwowna rechnete im Lehrerzimmer mit den Fingern anschaulich vor, in welchem Monat des dritten Quartals Katja geschwängert worden sein musste, damit das Kind im Dezember zur Welt kam.
    Die Parteisekretärin Rybkina, zugleich stellvertretende Direktorin, beriet sich mit der nächsthöheren Ebene sowohl der Schulbehörde als auch der Partei, wie mit dem kriminellen Lehrer zu verfahren sei, denn hier handle es sich eindeutig um einen Fall von Verführung einer Minderjährigen. Andererseits war die Minderjährige seit einigen Monaten volljährig, überdies hatte der Gesetzesbrecher sie geehelicht. Aber konnte man ihn ungestraft davonkommen lassen?
    Die Lehrer verfielen schlagartig in angespanntes Schweigen, sobald Viktor Juljewitsch das Lehrerzimmer betrat. Die Schulleitung, die heilige Dreieinigkeit – Direktorin, Parteisekretärin und Gewerkschaftsvorsitzender –

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