Das gruene Zelt
wollten in dieser Sache zunächst einen pädagogischen Rat einberufen. Doch die Direktorin Larissa Stepanowna zog es vor, erst einmal die Meinung der Obrigkeit zu sondieren. Also wurden Berichte an die Schulbehörde und an das Kreisparteikomitee geschickt.
In diesem seinem letzten Schulwinter begann Viktor Juljewitsch an einem Buch zu schreiben, auf das er seit Jahren hingearbeitet hatte. Der Titel stand bereits fest: Russische Kindheit . Das Genre, ob Monographie oder Essaysammlung, kümmerte ihn nicht sonderlich.
Er erhob nicht den Anspruch, etwas Neues entdeckt zu haben, war sich aber bewusst, dass seine Interessen zwischen mehreren Disziplinen lagen: Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Anthropologie im weitesten Sinn. Wobei seine Gedankengänge eher den Gesetzen folgten, auf die sich Mediziner und Biologen stützen. Darin zeigte sich der Einfluss seines Freundes Kolesnik.
Viktor beschrieb, wie er meinte, das moralische Erwachen des Jugendlichen, das im Normalfall eine ebenso obligatorische Phase sei wie das Durchbrechen der Zähne und die ersten Schritte am Ende des ersten Lebensjahres. Wie der ganze aufregende und immer gleiche Entwicklungsablauf, den er nun bei sich zu Hause beobachtete.
So der Anfang: Mit kaum zwei
lauschst du auf und strebst fort
von der Amme ins Chaos der Melodien.
Du trillerst und zwitscherst. Das gesprochene Wort
wird im dritten Jahr dich bei der Zunge ziehn.
Dieses poetische Modell von Pasternak fand Viktor überzeugender als alle Erklärungen der Entwicklungspsychologie. Den moralischen Reifeprozess betrachtete er als eine ebenso gesetzmäßige Besonderheit des Menschen wie den parallel stattfindenden biologischen. Doch das Erwachen vollzog sich auf unterschiedliche Weise und variierte je nach Individuum und Umständen. Das moralische Erwachen oder die »moralische Initiation«, wie er es sah, trat bei Jungen zwischen elf und vierzehn Jahren ein, meist im Zusammenhang mit einschneidenden Erlebnissen – einem Unglück, schwierigen familiären Situationen, einer Demütigung, dem Verlust eines vertrauten Menschen. Kurz, durch ein Ereignis, das die Seele erschütterte, sie erweckte. Jeder Mensch hatte seinen eigenen »wunden Punkt«, und genau da begann die individuelle »Revolution der Persönlichkeit«. Nahezu unabdingbar war nach Viktors Auffassung dabei ein »Initiator« – ein Lehrer, ein Erzieher, ein älterer Freund, ein Verwandter, aber eher ein entfernter. Wie bei der Taufe standen unter normalen Umständen, wenn keine Lebensgefahr drohte, dabei selten die Eltern Pate. In Ausnahmefällen konnte auch ein zur rechten Zeit gelesenes Buch ein solcher Initiator sein.
Im Anschluss an die gründliche Analyse dieses Phänomens beschrieb Viktor Beispiele derartiger Initiationen aus der klassischen russischen Literatur, betrachtete den Reifeprozess von Jugendlichen seiner Zeit, analysierte, warum er relativ spät eintrat, und konstatierte vor allem eine katastrophale Tendenz zur »Vermeidung der Initiation«.
Er reflektierte auch darüber, dass Protestanten und Anglikaner in diesem Alter die Konfirmation feierten, die »Bestärkung«, die bewusste Annahme des Glaubens, jüdische Jungen die Bar-Mizwa, die Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen, und die Muslime die Beschneidung. Religiöse Gemeinschaften maßen also dem Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein eine besondere Bedeutung bei, während die atheistische Welt dieses wichtige Ritual gänzlich eingebüßt hatte. Schließlich konnte man die Aufnahme in die Pionier- oder Komsomolorganisation nicht ernsthaft als Ersatz betrachten.
Die Gesellschaft sinkt unter ein moralisches Minimum, wenn die Zahl derer, die in ihrer frühen Jugend keine Initiation durchlaufen haben, auf über die Hälfte der Bevölkerung steigt – zu diesem Schluss gelangte Viktor.
Er entwickelte ernsthafte Einwände gegen den verstorbenen Wygotski hinsichtlich der Entstehung und der Veränderung der kulturellen Interessen, aber das war kaum von Belang, denn die Entwicklungspsychologie war ebenso wie die Genetik und die Kybernetik »geschlossen« worden. Viktor hegte im Grunde nicht die Hoffnung, sein Buch je zu veröffentlichen. Aber was bedeuteten solche praktischen Erwägungen schon, wenn das Leben so rasant verlief und alles bot, wovon er nur träumen konnte: Kreativität, eine wunderbare junge Frau, seine Natascha Rostowa, ein winziges Kind mit unglaublichen Fingerchen, Lippen und Äuglein – ein kleines Tierchen, das von Tag zu Tag mehr
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