Das gruene Zelt
den Begriff ein, der sich in ihrer Gruppe lange halten sollte: »Mutjuki und Murygi«. Er entsprach fast der Bezeichnung Sowki , die sich später einbürgern sollte, aber das Schöne daran war, dass nur sie ihn benutzten.
Den größten Unmut der »Mutjuki und Murygi« erregte Micha, darum bekam er von ihnen am meisten ab, doch dank seiner Heimerfahrung ertrug er die Prügel in der Schule mit Leichtigkeit, klagte nie, schüttelte sich, hob seine Mütze auf und rannte unter dem Gejohle seiner Feinde davon. Ilja spielte weiter mit Erfolg den Clown, so dass er die Feinde oft verwirrte, sie zum Lachen brachte oder mit einem überraschenden Streich verblüffte. Sanja war am sensibelsten. Doch gerade diese schmähliche Sensibilität wurde letztlich zu seinem Schutz. Eines Tages, als sich Sanja an einem Waschbecken der Schultoilette – die eine Mischung aus Parlament und Diebestreffpunkt war – die Hände wusch, empfand Mutjukin plötzlich eine heftige Abneigung gegen diese unschuldige Tätigkeit und forderte Sanja auf, sich auch die Visage zu waschen. Sanja tat es, teils aus Friedfertigkeit, teils aus Feigheit, woraufhin Mutjukin zum Scheuerlappen griff und damit über Sanjas nasses Gesicht fuhr. Inzwischen waren die beiden von Neugierigen umringt, die sich Unterhaltung versprachen. Doch daraus wurde nichts. Sanja fing an zu zittern, wurde blass, verlor das Bewusstsein und fiel auf den Fliesenboden. Damit war der klägliche Gegner natürlich besiegt, aber auf eine recht unbefriedigende Weise. Sanja lag in einer seltsamen Pose auf dem Boden, den Kopf weit zurückgeworfen; Murygin stieß ihn vorsichtig mit dem Fuß in die Seite, um festzustellen, wieso er so reglos dalag. Dabei sprach er ihn beinahe sanftmütig an: »He, Sanja, was liegst du hier rum?«
Mutjukin starrte entgeistert auf den reglosen Sanja.
Sanjas Augen blieben trotz der aufmunternden Tritte geschlossen. Da kam Micha herein, warf einen Blick auf die stumme Szene und lief zur Schulärztin. Eine Nase voll Salmiakgeist holte Sanja ins Leben zurück, und der Sportlehrer trug ihn ins Arztzimmer. Die Schulärztin maß Sanjas Blutdruck.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
Er antwortete, ganz gut, erinnerte sich aber nicht gleich, was geschehen war. Doch als ihm der schmutzige Lappen einfiel, der ihm übers Gesicht gefahren war, wurde ihm übel. Er bat um Seife und wusch sich gründlich. Die Ärztin wollte seine Eltern anrufen. Sanja überredete sie mit einiger Mühe, das zu unterlassen. Seine Mutter war sowieso arbeiten, und die Großmutter wollte er mit diesem unangenehmen Vorfall nicht behelligen. Ilja erbot sich, den geschwächten Freund nach Hause zu bringen, und die Ärztin schrieb beiden einen Zettel, dass sie den Unterricht verlassen dürften.
Von diesem Tag an genoss Sanja seltsamerweise einen höheren Status. Sie nannten ihn nun zwar »fallsüchtiger Gnom«, rührten ihn aber nicht mehr an. Aus Angst, er könnte wieder in Ohnmacht fallen.
Am 31. Dezember endete die Schule, und es begannen die Winterferien – elf Tage pures Glück. Micha behielt jeden einzelnen dieser Tage in Erinnerung. Zum Neujahrsfest bekam er ein märchenhaftes Geschenk. Tante Genja überreichte ihm nach geheimen Verhandlungen mit ihrem Sohn Marlen, der versicherte, dass seine Kinder auf diesen Teil des Familienerbes verzichteten und er selbst keine Einwände habe, ein Paar Schlittschuhe.
Es war ein längst nicht mehr gebräuchliches amerikanisches Modell, ein Mittelding zwischen Kunst- und Schnelllaufschlittschuhen mit vorn gezahnten Doppelkufen. Die Schlittschuhe waren mit sternförmigen Nieten an einstmals roten Schuhen befestigt. Auf der Metallplatte, die die Kufen mit den Schuhen verband, standen das Wort »Einstein« und eine Reihe rätselhafter Zahlen und Buchstaben. Die Schuhe hatte der Vorbesitzer ziemlich abgestoßen, doch die Kufen blitzten wie neu.
Für Tante Genja waren die Schlittschuhe ein Familienheiligtum. So wurden in anderen Familien Großmutters Brillanten gehütet.
Tatsächlich hatte die Geschichte dieser Schlittschuhe auch etwas mit Brillanten zu tun. 1919 war Tante Genjas älterer Bruder Samuil von Lenin in die USA geschickt worden, um die Amerikanische Kommunistische Partei zu gründen. Samuil war den Rest seines Lebens stolz auf diese Mission und erzählte seinen nahen Verwandten und engen Freunden, von denen er einige Hundert hatte, immer wieder von dieser Reise, bis er 1937 verhaftet wurde. Er wurde zu zehn Jahren Haft ohne Recht auf Briefwechsel
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