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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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hinter dem Schrank. Wassili Innokentiewitsch saß in einem Sessel und rauchte eine Papirossa. Jetzt nahm sich auch Anna Alexandrowna aus dem Etui, das vor Wassili Innokentiewitsch lag, eine dicke Papirossa, zündete sie an und tat einen Zug, musste aber sofort husten.
    »Basil, die Papirossy sind furchtbar stark!«
    »Darum biete ich sie auch niemandem an, Anjuta.«
    »Puh, puh!« Anna Alexandrowna wedelte den Qualm von ihrem Gesicht weg. »Wo hast du die her?«
    »Ich kaufe Tabak, und Lisa füllt ihn in die Hülsen.«
    Aber damit war das Fest noch lange nicht zu Ende. An die Kuchentafel würde sich Micha sein Lebtag erinnern, alles daran beeindruckte ihn sehr – von der selbstgemachten Bowle bis zu den Elfenbeinringen für die steifen weißen Stoffservietten.
    Ilja und Micha verständigten sich mit einem Blick. In diesem Moment existierte Sanja allein für sich, irgendwo weit über ihnen. Eine Freundschaft zu dritt ist, wie jede Dreiecksbeziehung, nicht so einfach. Es gibt Hindernisse und Versuchungen – Eifersucht, Neid, manchmal sogar kleine, wenn auch verzeihliche Gemeinheiten. Ist Gemeinheit mit unerträglich großer Liebe zu entschuldigen? Mit unerträglich großer Eifersucht und großem Schmerz? Das herauszufinden waren den dreien eine passende Zeit und ein ganzes Leben beschieden – dem einen ein längeres, dem anderen ein kürzeres …
    An diesem Abend fühlte sich nicht nur der gehemmte Micha, sondern selbst der forsche Ilja von der Pracht dieses Haushalts ein wenig gedemütigt. Das spürte Sanja, riss sich von Lisa los, die ihr Haar aus dem blauen Band gelöst hatte, und rief Micha beiseite. Sie flüsterten lange miteinander, holten auch Anna Alexandrowna hinzu. Nach einer Weile kündigten sie eine Scharade an. Sanja drehte einen eigentümlich aussehenden Stuhl um, und flugs wurde daraus eine kleine Treppe. Sanja stieg ganz nach oben, so dass er Micha weit überragte, der stellte sich eine Stufe tiefer, und dann sprachen sie zweistimmig, einander schubsend, stoßend und an den Ohren ziehend, grunzend und diverse unverständliche Laute ausstoßend, eine Art Gedicht-Rätsel:
    Mein Erstes ist bei beiden gleich –
eine Rede, wie sie auf der Weide zu hörn.
Mein zweites – in einem Fall eine Last 1) – »uff, wie schwer!«,
im andern ein nicht ganz salonfeiner Laut,
wie er uns nach dem Essen entfährt 2) .
Mein drittes ist wieder bei beiden gleich –
Im Deutschen als Präposition bekannt.
Es sind die Namen von zwei Wesen,
bedingt gehören sie zur Gattung Homo sapiens .«
    1) Anspielung auf russ. tjuk – Packen, Ballen. Anm. d. Ü.
    2) Ryg – ist die Wurzel des russ. Wortes rygnutj – rülpsen. Anm. d. Ü.
    Die Gäste lachten, aber auf die Lösung kam natürlich niemand. Nur einer im Raum konnte dieses linguistische Rätsel lösen: Ilja. Und das tat er. Er ließ die Gäste eine Weile nachdenken, bis sie einsahen, dass sie diese Nuss nicht knacken konnten, und verkündete dann nicht ohne Stolz: »Ich weiß es, diese Tiere heißen Mutjukin und Murygin!«
    Eigentlich war diese Scharade ein wenig unfair, schließlich hatte keiner der Gäste je von Mutjukin und Murygin gehört, doch niemand machte ihnen deswegen einen Vorwurf. Es war lustig, und das war in diesem Moment die Hauptsache.
    Aber zwischen den drei Jungen war etwas geschehen: Micha war durch seine Beteiligung an der Scharade zu Sanja aufgerückt, und Ilja hatte die beiden sogar überflügelt – schließlich hatte er das Rätsel gelöst und so das Spiel unterstützt. Es wäre gescheitert, hätte niemand die Lösung gefunden. Gut gemacht, Ilja!
    Die Jungen umarmten sich, und Wassili Innokentiewitsch fotografierte sie. Das war das erste gemeinsame Foto der drei.
    Der Fotoapparat war toll, ein Beutestück, das registrierte Ilja sofort. Ebenso wie die Oberst-Schulterstücke mit den Schlangen. Ein Militärarzt, das imponierte ihnen.
    Am 10. Januar ging Anna Alexandrowna mit den drei Freunden zu einem Klavierkonzert in den Tschaikowski-Saal, es wurde Mozart gespielt. Ilja langweilte sich gehörig, döste sogar kurz ein, Micha geriet in große Erregung, weil die Musik in ihm starke Begeisterung auslöste und ihn zugleich so verwirrte, dass er nicht einmal ein Gedicht darüber schreiben konnte. Sanja wurde traurig, er weinte beinahe. Anna Alexandrowna wusste, warum: Sanja hätte gern genauso gut Mozart gespielt …
    Am 11. gingen sie wieder in die Schule, und gleich am ersten Tag wurden die drei und ein weiterer Junge, Igor Tschetwerikow, auf dem

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