Das gruene Zelt
Hause gehen; die Jungen stürmten mit Geheul und Geschrei aus der Schule und scherten sich nicht mehr um die drei, die allein in dem mit bunten Astern geschmückten Klassenraum zurückblieben.
Sanja holte das halberstickte Kätzchen aus dem Ranzen und gab es Ilja. Der reichte es weiter an Micha. Sanja lächelte Ilja an, Ilja Micha, Micha Sanja.
»Ich hab ein Gedicht gemacht. Über das Kätzchen«, sagte Micha schüchtern. »Hier:
Ein junger Kater, wunderschön,
Der sollte beinah von uns gehn.
Ilja hat ihn vorm Tod bewahrt,
Hat ihm den schlimmen Tod erspart.«
»Na ja, nicht schlecht. Natürlich nicht gerade Puschkin«, kommentierte Ilja.
»Zweimal Tod geht nicht«, bemerkte Sanja, und Micha stimmte ihm selbstkritisch zu.
»Ja, du hast recht. Hat ihm ein schlimmes Los erspart. Das ist besser!«
Micha erzählte ausführlich, wie er am Morgen auf dem Schulweg das arme Kätzchen knapp einem Hund entrissen hatte, der drauf und dran war, es totzubeißen. Aber nach Hause mitnehmen könne er es nicht, denn wer weiß, wie die Tante, bei der er seit letztem Montag wohne, das finden würde.
Sanja streichelte das Kätzchen und seufzte.
»Ich kann es auch nicht nehmen, wir haben einen Kater. Der hätte bestimmt was dagegen.«
»Na schön, dann nehme ich es.« Ilja griff lässig nach dem Kätzchen.
»Und du kriegst zu Hause keinen Ärger?«, erkundigte sich Sanja.
Ilja lachte spöttisch.
»Bei mir zu Hause wird gemacht, was ich sage. Mit meiner Mutter komme ich klar. Sie hört auf mich.«
Er ist schon richtig erwachsen, so werde ich nie, ich könnte nicht sagen »mit meiner Mutter komme ich klar«. Ich bin wirklich ein Muttersöhnchen. Obwohl meine Mutter auch auf mich hört. Und Großmutter auch. Sogar mehr als das! Trotzdem ist das etwas anderes, dachte Sanja traurig.
Er betrachtete Iljas knochige Hände, die voller gelber und dunkler Flecke und Schrammen waren. Lange Finger, damit könnte er zwei Oktaven greifen. Micha setzte sich derweil das Kätzchen auf den Kopf, auf den roten Haarschopf, den der großmütige Friseur gestern »zum Weiterwachsen« stehengelassen hatte. Das Kätzchen rutschte dauernd herunter, Micha setzte es immer wieder zurück.
Sie verließen die Schule zu dritt. Das Kätzchen fütterten sie mit einem geschmolzenen Eis. Sanja hatte Geld dabei. Es reichte für vier Portionen. Wie sich später herausstellte, hatte Sanja fast immer Geld dabei … Zum ersten Mal im Leben aß Sanja Eis auf der Straße, gleich aus der Packung. Wenn seine Großmutter Eis kaufte, trugen sie es nach Hause, füllten den schrumpfenden Klumpen in eine Glasschale mit Fuß und gaben Kirschkonfitüre darauf – nur so hatte er bisher Eis gegessen.
Ilja erzählte den beiden begeistert, was für einen Fotoapparat er sich vom ersten selbstverdienten Geld kaufen würde, und teilte ihnen auch gleich seinen Plan mit, wie er dieses Geld verdienen könne.
Sanja eröffnete ihnen unvermittelt sein Geheimnis – seine Hände seien zu klein, keine Pianistenhände, und das sei für einen Klavierspieler ein großes Manko.
Micha, der Waise war und sich gerade in eine neue Familie einlebte, die dritte in den letzten sieben Jahren, erzählte freimütig, dass seine Verwandten nun zur Neige gingen, und wenn Tante Genja ihn jetzt nicht behalten würde, müsse er wieder ins Kinderheim …
Diese neue Tante war eine schwächliche Person. Sie hatte keine bestimmte Krankheit, sagte aber gern bedeutungsschwer und voller Trauer von sich: »Ich bin am ganzen Leib krank« und klagte ständig über Schmerzen in den Beinen, im Rücken, in der Brust und in den Nieren. Außerdem hatte sie neben ihrem erwachsenen Sohn Marlen, der nicht mehr bei ihr wohnte und ihr keine große Hilfe war, eine behinderte Tochter, was sich ebenfalls negativ auf ihren Gesundheitszustand auswirkte. Jede Arbeit fiel ihr schwer, so dass die Familie schließlich entschieden hatte, den verwaisten Neffen bei ihr unterzubringen und in der Verwandtschaft Geld für seinen Unterhalt zu sammeln. Micha war immerhin der Sohn ihres gemeinsamen im Krieg gefallenen Bruders.
Die Jungen schlenderten und redeten, redeten und schlenderten, dann blieben sie an der träge dahinfließenden Jausa stehen und verstummten. Sie spürten alle zugleich, wie gut das tat: Vertrauen, Freundschaft, Gleichheit. Und kein Gedanke daran, wer der Anführer sei, nein, jeder interessierte sich gleichermaßen für jeden. Von Ogarjow und Herzen und ihrem berühmten Schwur auf den Sperlingsbergen wussten die drei
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