Das gruene Zelt
Das Vorbild selbst, damals ein erwachsener Mann mit der Aura eines Kämpfers, ja beinahe Märtyrers, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sehr populär war, bemerkte das verliebte Fräulein nicht, hinterließ aber eine nachhaltige Spur in der Tiefe ihrer Psyche: Ihr ganzes langes Leben hindurch bewahrte sie eine Vorliebe für solche rothaarigen, markanten, emotionalen Männer.
Sie lächelte, wenn sie Micha ansah – der Junge war von eben diesem Typ, aber sie hatten einander zeitlich verfehlt … Seine entzückten Blicke waren ihr angenehm.
Michas Gefühle fanden also, ohne dass er es ahnte, Erwiderung. Von diesem Winter an war er ein häufiger Gast bei Sanjas Familie. Das große Zimmer mit den dreieinhalb Fenstern (eines wurde von einer Wand in der Mitte geteilt) beherbergte unter der hohen Decke mit dem ebenfalls zerteilten Stuck einzigartige Bücher, sogar in Fremdsprachen. Ein stets einsatzbereites Klavier barg Musik. Von Zeit zu Zeit breiteten sich ungewohnte, herrliche Gerüche aus – nach echtem Kaffee, Bohnerwachs oder Parfüm.
Genau so war es bestimmt zu Hause bei meinen Eltern, dachte Micha. An seine Eltern hatte er keine Erinnerung: Seine Mutter war bei einem Bombenangriff auf den letzten Zug aus Kiew in Richtung Osten umgekommen, am 18. September 1941, als die Deutschen bereits auf Podol vorrückten. Sein Vater war an der Front gefallen, ohne vom Tod seiner Frau und der Rettung des Sohnes erfahren zu haben.
In Wirklichkeit war es bei Michas Eltern ganz anders gewesen als bei Sanja Steklow; doch Fotos seiner Eltern, die wie durch ein Wunder den Krieg überstanden hatten, sah er zum ersten Mal mit zwanzig. Sie zeigten ärmliche, unschöne Menschen, die ihn sehr enttäuschten – die Mutter mit der riesigen schamlosen Büste und einem falschen Lächeln auf den kleinen dunklen Lippen, und der Vater – ein kurzbeiniger Dicker mit schrecklich aufgeblasener Miene. Der Hausrat im Hintergrund erinnerte in keiner Weise an den im kleinen Salon im ehemaligen Haus der Apraxins-Trubezkois, in dem Sanjas Familie lebte.
Am 9. Januar, gegen Ende der Ferien, feierten sie Sanjas Geburtstag. Davor, am 7. Januar, war noch Weihnachten gewesen, aber dazu waren nur erwachsene Gäste eingeladen. Es sollten noch einige Jahre vergehen, bis auch die Jungen am 7. Januar empfangen wurden. Dafür waren zu Sanjas Geburtstag immer diverse Weihnachtsleckereien übrig – kandierte Äpfel, Kirschen und sogar Apfelsinenschalen, die bei Anna Alexandrowna so gut schmeckten wie bei niemandem sonst. Außerdem war der Wandschirm zusammengeklappt, der Esstisch näher zur Tür gerückt, und zwischen den beiden Fenstern stand eine große Tanne, behängt mit phantastischem Baumschmuck aus einer Schachtel, die das ganze Jahr auf dem Hängeboden lag.
Sanjas Geburtstag war immer ein wunderschönes Fest. Diesmal kamen sogar Mädchen: Lisa und Sonja, zwei Freundinnen von Sanja aus der Musikschule, und Tamara mit ihrer Freundin Olga, aber die beiden waren noch sehr klein, sie gingen in die erste Klasse und interessierten die Jungen nicht. Tamara war die Enkelin von Großmutters Freundin, einer eher unscheinbaren und wenig beeindruckenden Frau. Dafür war Lisas Großvater Wassili Innokentiewitsch großartig in seiner Militäruniform, mit seinem Schnauzbart und seinem komplexen Geruch nach Rasierwasser, Medizin und Krieg. Seine Enkelin redete er halb scherzhaft mit »Sie« an, zu Anna Alexandrowna aber sagte er »Anjuta, du …« Er war ihr Cousin, Lisa war also Sanjas Cousine zweiten Grades. Auch diese vorrevolutionären Wörter – Cousin, Cousine – stammten vermutlich aus der Schachtel vom Hängeboden.
Anna Alexandrowna nannte die Mädchen »Fräuleins« und die Jungen »junge Männer«, und Micha, verwirrt und überwältigt von diesen mondänen Umgangsformen, beruhigte sich erst, als Ilja ihm von weitem zuzwinkerte, mit einer Miene, als wollte er sagen: Keine Angst, hier tut dir keiner was!
Anna Alexandrowna hatte alles phantastisch arrangiert. Zuerst gab es Puppentheater mit einer echten Puppenbühne, mit einem Petruschka, einem dummen Iwan und der dicken Puppe Rosa. Es war sehr lustig, wie sie sich prügelten und in einer fremden Sprache zankten.
Dann machten sie Wortspiele. Die beiden kleinen Mädchen, Tamara und Olga, standen den Erwachsenen in nichts nach, sie waren ungewöhnlich weit für ihr Alter. Anschließend bat Anna Alexandrowna die Kinder an den ovalen Tisch, und die Erwachsenen tranken ihren Tee im Hintergrund,
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