Das gruene Zelt
verurteilt und verschwand für immer, aber seine große Geschichte wurde zur Familienlegende.
Im Juli 1919 fuhr Samuil also auf Umwegen von Moskau über Nordeuropa nach New York und betrat den Pier als Matrose, der mit einem Handelsschiff aus Holland gekommen war. Polternd schritt er den Landungssteg hinab; in den Absätzen seiner von einem Kreml-Schuster gefertigten Schuhe steckten Brillanten von enormem Wert. Er erfüllte seinen Auftrag – im Namen der Komintern eröffnete er den ersten illegalen Parteitag der Kommunistischen Partei Amerikas. Nach einigen Monaten kehrte Samuil zurück und erstattete dem Genossen Lenin persönlich Bericht.
Von seinen bescheidenen Spesen gab er nur zwölf Dollar fürs Essen aus, vom übrigen Geld kaufte er Geschenke. Für seine Frau erstand er ein rotes Wollkleid mit einem gehäkelten Beerenmuster auf Kragen und Schultern und drei Nummern zu kleine rote Schuhe. Die Schlittschuhe waren das dritte und teuerste amerikanische Mitbringsel in seinem Gepäck – er hatte sie auf Zuwachs für seinen kleinen Sohn gekauft, der jedoch bald darauf starb.
Samuil hätte lieber Schlittschuhe für sich selbst kaufen sollen. Als Kind hatte er so davon geträumt, übers Eis zu gleiten, tief über die glänzende Fläche gebeugt, vorbei an all seinen Widersachern, vorbei an den Damen mit Muff, den Gymnasiasten und Fräuleins, darunter vor allem Marussja Galperina … Die Schlittschuhe lagen lange in der Truhe und warteten auf einen neuen Erben. Aber Samuil waren keine weiteren Kinder beschieden, und nach zehn Jahren unter Verschluss gingen die Schlittschuhe an den Sohn seiner jüngeren Schwester Genja.
Und nun, weitere zwanzig Jahre später, wechselten sie in die Hände – genauer, an die Füße – eines anderen Verwandten des großen Helden Samuil.
Mit diesem überraschenden Geschenk, das alle Vorstellungen von einem möglichen Glück übertraf, endete für Micha der erste Ferientag. Und nichts deutete auf das Unglück hin, das dieses Geschenk bald bringen sollte.
Am Silvesterabend versammelte sich Tante Genjas vielköpfige Familie um den Tisch, der mit Erlaubnis der Nachbarn in der großen Küche der Gemeinschaftswohnung gedeckt war statt in dem Vierzehn-Quadratmeter-Zimmer, in dem Tante Genja mit ihrer unverheirateten behinderten Tochter Minna und mit Micha wohnte. Tante Genja hatte ein üppiges Mahl zubereitet – Fisch und Huhn. In der Nacht nach dem denkwürdigen Fest schrieb Micha ein Gedicht, in dem er die unvergesslichen Eindrücke dieses Tages festhielt.
Die Schlittschuhe sind schöner noch
als alles, was ich fand,
sind schöner als der Sonnenschein,
als Feuer, Wasser, Sand.
So wunderschön ist jeder Mensch,
der diese Schlittschuh trägt.
Der Tisch so feierlich gedeckt,
für alle Speis und Trank,
und der Familie wünsche ich
Erfolg und Glück zum Dank.
Die ganze folgende Woche stand Micha noch im Dunkeln auf und ging hinaus auf den Hof, auf die kleine Eisbahn, drehte dort ganz allein seine Runden und verschwand, sobald die anderen Jungen, die in den Ferien lange schliefen, auf dem Hof auftauchten. Er stand nicht sehr sicher auf den Schlittschuhen und fürchtete, einen möglichen Angriff nicht abwehren zu können.
Die Schlittschuhe waren in diesen Ferien natürlich das Ereignis Nummer eins. Nummer zwei war Sanjas Großmutter Anna Alexandrowna. Sie ging mit den drei Freunden ins Museum.
Das begeisterte nicht nur Micha, der von Natur aus zur Hälfte aus Wissensdurst, wissenschaftlicher und unwissenschaftlicher Neugier und Begeisterung und zur anderen Hälfte aus unbändiger kreativer Energie bestand. Die Museumsbesuche beeindruckten sogar Ilja, der sich nicht durch ein großes Kunstbedürfnis auszuzeichnen schien, sondern sich mehr für Technik interessierte. Nur Sanja, der Besitzer der unglaublichen Großmutter, schlenderte gelassen von Saal zu Saal und gab hin und wieder Kommentare ab – nicht an seine Freunde gewandt, nein, an die Großmutter! –, die zeigten, dass er in den Museen genauso zu Hause war wie im Konservatorium.
Diese Großmutter hatte es Micha angetan, er verliebte sich geradezu in sie. Fürs ganze Leben, bis zu ihrem Tod. Und sie sah in ihm einen künftigen Mann jenes Typs, der ihr immer gefallen hatte. Der Junge war rothaarig, er war Dichter, und in jener Woche humpelte er vom vielen Üben auf den neuen Schlittschuhen sogar ein wenig – genau wie jener beinahe große Dichter, in den Anna Alexandrowna als dreizehnjähriges Mädchen heimlich verliebt gewesen war.
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