Das gruene Zelt
noch nichts, selbst der belesene Sanja kannte Alexander Herzen noch nicht. Außerdem galt diese verrufene Gegend – Chitrowka, Gontschary, Kotelniki – seit Jahrhunderten als übelste der Stadt und war nicht geschaffen für romantische Schwüre. Aber in ihrem Leben war etwas Wichtiges geschehen: Eine solche Verbundenheit zwischen Menschen ist nur in jungen Jahren möglich. Als Kinderfreundschaft hakt sie sich tief im Herzen fest und hält ein Leben lang.
Einige Zeit später würden sie ihren Herzensbund hochtrabend »Trianon« nennen, andere Namen wie »Troiza« und »Trio« hatten sie nach langen Debatten verworfen. Sie wussten nichts von der Teilung Österreich-Ungarns, sie wählten die Bezeichnung »Trianon« ihrer Schönheit wegen.
Dieses Trianon sollte zwanzig Jahre später in einem peinlichen Gespräch erwähnt werden, das Ilja mit einem hochrangigen Mitarbeiter der Staatssicherheit haben würde, dessen Dienstgrad im Dunkeln blieb und dessen Name, Anatoli Alexandrowitsch Tschibikow, nicht sein richtiger war. Aber selbst die eifrigsten Dissidenten-Bekämpfer der KGB-Bande würden sich genieren, das Trianon als antisowjetische Jugendorganisation einzustufen.
Zusammengeführt wurden die Jungen also nicht vom hohen Ideal der Freiheit, um dessentwillen man entweder unverzüglich sein Leben opfern oder, was noch öder ist, Jahr um Jahr seines Lebens dem Dienst am undankbaren Volk widmen muss, wie Alexander Herzen und Nikolai Ogarjow es hundert Jahre zuvor getan hatten, sondern von einem schwachen Kätzchen, dem es nicht vergönnt war, die Erschütterungen des ersten Septembers 1951 lange zu überleben. Es starb zwei Tage später in Iljas Armen und wurde unter einer Parkbank im Hof des Hauses Nummer 22 in der Pokrowka-Straße (die damals den Namen Tschernyschewskis trug, der sein Leben ebenfalls für edle Ideen geopfert hatte) heimlich, aber feierlich begraben. Das Haus war früher einmal »Kommode« genannt worden, doch das wusste inzwischen kaum noch einer der Bewohner.
Das Kätzchen ruhte nun unter einer Bank, auf der – vermutlich – der junge Puschkin mit seinen Cousinen gesessen und sie mit wohlgesetzten Versen unterhalten hatte. Sanjas Großmutter erinnerte ständig daran: Das Haus, in dem sie wohnten, habe bessere Zeiten erlebt.
In der Klasse vollzog sich erstaunlicherweise ziemlich rasch – innerhalb von zwei oder vier Wochen – eine gewisse Veränderung. Micha merkte das natürlich nicht, woher sollte er wissen, wie es früher gewesen war, er war ja neu. Sanja und Ilja aber spürten: Sie standen in der Klasse zwar nach wie vor ganz unten in der Hierarchie, aber nun nicht mehr einzeln, sondern gemeinsam. Und galten jetzt als anerkannte Minderheit, und zwar, weil sie sich nicht in die Allgemeinheit der kleinen Welt einzufügen vermochten. Die beiden Anführer, Mutjukin und Murygin, hatten alle Übrigen fest im Griff, und wenn sie sich zerstritten, zerfiel die Klasse in zwei verfeindete Parteien, denen sich die Parias nie anschlossen – man hätte sie auch gar nicht aufgenommen. Dann kam es zu fröhlichen oder bösartigen Rangeleien, mit Blutvergießen und ohne, und die drei wurden vergessen. Wenn sich Mutjukin und Murygin jedoch wieder versöhnt hatten, besannen sich alle auf die drei Außenseiter, die man mühelos verprügeln konnte, doch es war reizvoller, sie in Angst und Unruhe zu halten und sie ständig daran zu erinnern, wer hier das Sagen hatte.
In der fünften Klasse begann die Mittelstufe, und anstelle der für die gesamte Lese-, Schreib- und Rechenkunst zuständigen Natalja Iwanowna, einer herzensguten Frau, die es geschafft hatte, sogar Mutjukin und Murygin, von ihr liebevoll Tolenka und Slawotschka genannt, das Alphabet beizubringen, bekamen sie nun Fachlehrer: Lehrer für Mathematik und Erdkunde, Lehrerinnen für Russisch, Biologie, Geschichte und Deutsch.
Die Fachlehrer waren besessen von ihrem jeweiligen Fach und gaben umfangreiche Hausaufgaben auf, und die »normalen Jungs« waren eindeutig überfordert. Ilja, der in der Unterstufe keineswegs geglänzt hatte, holte dank seiner neuen Freunde auf, und am Ende des ersten Quartals, zu Neujahr, stellte sich heraus, dass die minderwertigen Brillenträger und Schwächlinge beste Leistungen hatten, während Mutjukin und Murygin im Unterricht kaum noch mitkamen. Der Konflikt, den die Erwachsenen einen sozialen genannt hätten, spitzte sich zu und wurde bewusster wahrgenommen, zumindest von der unterdrückten Minderheit. Damals führte Ilja
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