Das gruene Zelt
um.
Die Platte wurde gewechselt: »Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt, Freundschaft siegt, Freundschaft siegt, über Klüfte, die des Krieges Hader schuf …«
Der Schotte kam zu sich. »Freundschaft siegt, Freundschaft siegt«, donnerte der Lautsprecher.
Nach zwei Stunden, die Freunde waren inzwischen in der Bierstube, kam Pierres Onkel, ein Franzose mit dem russischen Namen Nikolai Iwanowitsch Orlow. Ein älterer Mann, rosig und rundlich wie das fröhliche Schweinchen Nif-Nif; er sprach das altmodisch klingende Petersburger Idiom. Er war originell gekleidet – er trug einen Strohhut und ein ukrainisches Hemd mit Stickereien am Kragen, genau wie Chrustschow. Einen Ausländer hätte man in ihm kaum vermutet. Eher einen Buchhalter aus der Provinz, wegen der schäbigen Aktentasche.
Als Petja ihn entdeckte, lachte er laut los.
»Na, das ist ja eine Maskerade!«
Petja machte die drei Freunde nicht ohne Absicht mit ihm bekannt: Über ihn wollte er mit ihnen in Verbindung bleiben.
Der Post vertrauten sie nicht. Sie tauschten ihre Telefonnummern aus. Anrufen konnten sie den Franzosen natürlich nur von Automaten auf der Straße, und um den Ort ihrer Verabredung am Telefon nicht zu erwähnen, einigten sie sich darauf, sich immer hier vor dem tschechischen Bierlokal zu treffen.
So knüpften sie einen kriminellen Kontakt zu einem Ausländer.
Das berühmte tschechische Bier war hell, die Krüge beschlugen, was von der richtigen Temperatur zeugte. Allerdings stand es nur auf den Nachbartischen, denn als die Freunde hereinkamen, war es gerade alle. Genau wie die tschechischen Würstchen, die Špekáˇcky. Die Kellner servierten Shiguljowskoje-Bier und Salzbrezeln, einen großartigen Imbiss. Am Nebentisch wurde an heimlich eingeschmuggeltem Stockfisch gepolkt und Wodka ins Bier gegossen – unterm Tisch.
Das hätten sie gern fotografiert, aber erstens trauten sie sich nicht, und zweitens war es zu dunkel.
Auf geheimnisvolle Weise tauchte wieder tschechisches Bier auf, und sie mussten noch je zwei Krüge trinken. Fröhlich und mit leichter Schlagseite verließen sie das Lokal. Pierre schenkte Ilja zum Abschied seine Hasselblad. Das heißt, eigentlich wollte er mit Ilja tauschen, aber Ilja konnte seinen Fedja nicht hergeben.
»Das ist ein Geschenk meines Vaters, das ist nicht irgendein Ding, das ist Teil meines Lebens.«
Da nahm Pierre seinen matten genarbten Lederriemen ab und sagte:
»Verstehe. Hier, nimm.«
Onkel Orlow schenkte ihnen seine Buchhalteraktentasche. Sie war schwer, es waren Bücher darin. An der Metrostation trennten sie sich und gingen in drei verschiedene Richtungen: Ilja und Pierre wollten zu Fuß ins Zentrum, Orlow lief ebenfalls, aber in die andere Richtung – er wohnte am Oktrjabrskaja-Platz.
Orlows Aktentasche voller Bücher trug Micha. Er und Sanja gingen hinunter zur Metro. Das Fest dauerte noch immer an, obwohl es offiziell beendet war.
Gruppen fröhlicher und angetrunkener Menschen, ein wenig erschöpft vom zweiwöchigen Feiern, genossen den letzten Abend.
Von den Ausländern, die eine Zeitlang das Stadtbild von Moskau geziert hatten, waren nur wenige unterwegs. Wahrscheinlich packten sie ihre Koffer, schliefen, vollzogen einen letzten Warenaustausch, verkauften ihre verbliebenen Valuta oder küssten noch einmal die sowjetischen Mädchen, die zum ersten Mal den Reiz einer Romanze mit einem Österreicher, einem Schweden oder einem Bürger des unabhängigen Ghana gekostet hatten.
Die Völkerfreundschaft triumphierte. Die Ausländer hatten sich, entgegen jahrelanger Eintrichterungen, als nette junge Leute erwiesen – keine Kapitalisten, lauter Kommunisten und Sympathisanten. Wie Picasso mit seiner Friedenstaube und Federico Fellini.
Sanja und Micha saßen nach Mitternacht bei Sanja auf dem Hof des Hauses in der Tschernyschewski-Straße auf einer Bank, sprachen über die Besserung der Sitten in Russland und lobten Chrustschow, der den Eisernen Vorhang einen Spaltbreit geöffnet hatte. Dann wechselten sie zu persönlicheren Themen. Micha berichtete Sanja, was er dem spottlustigen Ilja ein wenig unklar erzählt hatte – von der armen Minna, von ihrer unsauberen Beziehung, von dem scheußlichen Nachgeschmack, den er nun wohl sein Leben lang nicht mehr loswerden würde.
Sanja nickte schweigend. Für ihn hatte das Geheimnis zwischen Mann und Frau schon immer etwas Unsauberes, zugleich Abstoßendes und Anziehendes gehabt. Bis zum Wesen der Sache drangen sie nicht vor, dafür fehlten
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