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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Minna passte ihn oft in der Flurnische vor der Toilette ab, drückte ihn in die Ecke und presste sich mit ihren warmen, weichen Körperteilen an ihn, bis er sich mühelos von ihr löste, krebsrot, zitternd und vollkommen befriedigt. Er hätte sich nach dieser Herumdrückerei jedes Mal am liebsten umgebracht, schwor sich, Minna das nächste Mal wegzustoßen und davonzulaufen, brachte es aber nie fertig. Sie war zärtlich, weich, stellenweise aufregend behaart und kaum der Sprache mächtig – letzteres verhinderte, dass die Sache bekannt wurde.
    Micha verging förmlich vor Schuldgefühlen und Selbstekel, der Gedanke an Selbstmord nistete ständig in den Tiefen seines Bewusstseins. Vom Unterbewussten sprach damals noch niemand.
    In diesem traurigen Zustand traf Ilja ihn an. Er stellte keine Fragen, schleppte Micha aber hinaus auf die Straße – zur Zerstreuung.
    Moskau war außergewöhnlich sauber und relativ leer. Die Weltfestspiele begannen am nächsten Tag. Durch die leere Stadt fuhren kolonnenweise PKW, offene und geschlossene LKW und Busse – altmodische sowjetische und ungarische Ikarus-Busse.
    Überall hingen Fahnen und riesige Papierblumen, und die Mädchen trugen in diesem Sommer weite bunte Röcke mit dicken Petticoats darunter und breitem Gürtel um die Taille, die Haare waren hochtoupiert.
    Ilja und Micha überwanden zwei kleinere Straßensperren und erreichten den Park vor dem Bolschoi-Theater. Hier waren relativ viele Menschen versammelt. Ilja wies auf zwei unschlüssig aussehende, nicht sonderlich hübsche Mädchen: Komm, die machen wir an!
    »Lass mich in Ruhe«, sagte Micha beleidigt und wandte sich ab, um davonzugehen.
    »Entschuldige, Micha, entschuldige, ich bin ein grober Klotz! Wollen wir uns betrinken, ja? Komm! Ins National!«
    Seltsamerweise gelang es ihnen tatsächlich, ins Café National zu kommen. Vielleicht war der Portier gerade austreten und hatte vergessen, den Riegel vorzulegen, vielleicht verließ er sich einfach auf das überzeugende Schild »Geschlossene Gesellschaft«.
    »Wir trinken Kognak«, sagte Ilja entschlossen und bestellte bei dem verunsicherten Kellner unverzüglich dreihundert Gramm.
    Sie tranken die dreihundert Gramm zu zwei Stücken Kuchen, dann wiederholten sie die Bestellung. Zwischen der ersten und der zweiten Portion fühlte sich Micha schon merklich besser, und da trat ein junger Mann mit einer Hasselblad-Kamera um den Hals an ihren Tisch, augenscheinlich ein Russe, und fragte, ob er sich zu ihnen setzen dürfe.
    »Natürlich«, antwortete Micha und schob ihm einen Stuhl hin.
    Sie kamen sofort ins Gespräch. Der junge Mann hieß Petja, aber er war kein einfacher Petja, sondern Pierre Sand, ein Belgier russischer Abstammung, Student der Universität Brüssel. Die zweiten dreihundert Gramm tranken sie bereits zu dritt, dann schlenderten sie durch die Stadt. Den Fotoapparat ließ Pierre auf Iljas Rat hin im Hotel.
    Sie liefen durch das Stadtzentrum, und ein besserer Tourist als Pierre war kaum vorstellbar. Er erkannte Orte, an denen er noch nie gewesen war – weil seine Eltern und seine Großmutter ihm davon erzählt hatten und dank seiner ausgezeichneten Kenntnis der russischen Literatur.
    Und die einstigen Ljurssy waren die besten Stadtführer für Petja mit seiner Schwärmerei für Russland.
    In der Trjochprudny-Gasse blieb Ilja vor einem kleinen Holzhaus stehen und sagte:
    »Hier hängt zwar keine Gedenktafel, aber wir wissen, dass hier Marina Zwetajewa gelebt hat.«
    Pierre war sentimental geworden, und vor dem Zwetajewa-Haus fing er beinahe an zu weinen.
    »Meine Mutter kannte Marina Iwanowna von Paris her gut. Bei euch wird sie nicht mal gedruckt …«
    »Das nicht, aber wir kennen sie trotzdem«, sagte Micha.
    »Einen schuf er aus Stein und den andern aus Erde
und aus funkelndem Silber mich!
Verrat ist mein Werk – und mein Name Marina;
vergänglicher Meer-Schaum bin ich.
    Aber ich mag ehrlich gesagt Anna Achmatowa lieber. Und Ilja, der schwärmt für die Futuristen.«
    Doch egal, wer wen lieber mochte, es war einfach verblüffend, dass sie da jemanden vor sich hatten, dessen Mutter Marina Zwetajewa gekannt hatte. Pierres Wurzeln lagen in einem längst nicht mehr existierenden Land, das in die Emigration gegangen war. Während ihres Spaziergangs erzählte Pierre von seiner Familie, von jenem einstigen Russland, das für seine Zuhörer ebenso ein Phantom war wie Brüssel oder Paris. Aber wie heftig und leidenschaftlich Petja die Bolschewiki hasste!
    Micha

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