Das gruene Zelt
und Ilja, die schon viel über die Fehler des Sozialismus diskutiert hatten, trafen zum ersten Mal auf jemanden, der das kommunistische System nicht nur fehlerhaft fand: Er bezeichnete es als durch und durch teuflisch, als finster und blutrünstig, und sah keinen wesentlichen Unterschied zwischen Kommunismus und Faschismus. Irgendwie vereinte Petja in sich die Liebe zu Russland und den Hass auf dessen Regime.
Zwei Wochen lang waren die drei faktisch unzertrennlich. Dank Pierre gelangten sie, in den belgischen Bus geschummelt, zur Eröffnung der Weltfestspiele ins Lushniki-Stadion, wo über dreihunderttausend Sportler abwechselnd eine aufblühende Blume bildeten und sich zu geometrischen Formationen ordneten; ihre Arme, Beine und Köpfe hoben und senkten sich synchron, und das war ein atemberaubendes Spektakel.
»So was gab es auch bei Hitlers Naziaufmärschen«, flüsterte Pierre. »Die Filme von Leni Riefenstahl gingen damals um die ganze Welt. Die Macht der Massenpsychose. Aber es ist wirklich beeindruckend! Und großartig!«, seufzte Pierre und drückte immer wieder auf den Auslöser seines Fotoapparats. Ilja tat es ihm gleich.
Dann gab es ein Jazzkonzert, einen großen Fackelzug, eine Vorführung von Synchronschwimmern und natürlich endlose Gesänge und Tänze von Ensembles der Sowjetarmee, der Flotte, der Industrie, des Handels, der Gewerkschaften der Köche und Friseure.
Pierre zeigte weder Interesse für die Ägypter, die »Nasser! Nasser!« skandierten, noch für die schwarzen Bürger des unabhängigen Ghana oder die Israelis, die ebenfalls stürmisch begrüßt wurden, besonders von Sowjetbürgern mit dem Nationalitätenvermerk »Jude« im fünften Punkt des Ausweises. Pierre interessierte sich nur für Russland.
Am dritten Tag der Weltfestspiele schloss sich ihnen Sanja nach einer auskurierten Angina an, und ganze zwei Wochen waren sie ununterbrochen auf den Beinen, heiter und fröhlich, so dass Micha Minna fast vergaß.
Ilja dachte kein einziges Mal an die versäumten Aufnahmeprüfungen für das Filminstitut, und Sanja schob für eine Zeitlang seinen Kummer wegen der gescheiterten Musikerkarriere beiseite. Alle drei verliebten sich in Petja, in Pierre, und keiner von ihnen konnte ahnen, welchen Einfluss der ausländische Freund noch auf ihr Schicksal haben würde.
Pierre war, wie sich herausstellte, von einer Jugendzeitung zu den Weltfestspielen geschickt worden, mit dem Auftrag für eine Fotoserie über das Leben in Moskau. Er machte wunderbare Moskau-Fotos, größtenteils dank seiner neuen Freunde. Er fotografierte einen Brotladen, als gerade frisches Brot angeliefert wurde, den Flusshafen mit Kränen und Hafenarbeitern, Kinderkrippen, Höfe mit Wäscheleinen und Schuppen, lesende Mädchen in der Metro, alte Frauen beim Schlangestehen, trinkende und sich küssende Männer – und eine Menge Fröhlichkeit.
Übrigens wurden die Fotos vom Redakteur der Zeitung später verworfen. Er hielt sie für gestellt und für kommunistische Propaganda. Pierre, dem man keinerlei Sympathien für das kommunistische Regime vorwerfen konnte, nannte den Redakteur voreingenommen, und sie zerstritten sich.
Einen Tag vor Pierres Abreise gingen sie alle zusammen in den Kulturpark, Bier trinken. Dort gab es eine wunderbare tschechische Bierstube, die sich als Restaurant ausgab. Die Schlange quoll um die Bierstube herum wie Schaum über einen Krug, aber sie stellten sich brav hinten an – sie hatten keine Eile. Sie erwarteten noch einen entfernten Verwandten von Pierre, einen Cousin seiner Mutter, der in der französischen Botschaft in Moskau arbeitete. Das Anstehen wurde nicht langweilig, es gab ständig Unterhaltung. Erst hüpfte eine Gruppe auf Stelzen vorbei, dann folgten schottische Dudelsackspieler, Mexikaner mit Rasseln und Ukrainer in Trachten.
Sanja und Micha hielten den Platz in der Schlange, und Ilja und Pierre liefen herum, um spannende Fotos zu schießen. Sie erwischten eine herrliche Prügelei zwischen einem stämmigen, kurzbeinigen Schwarzen und einem Schotten im weiß-grün karierten Kilt. Eine Zuschauermenge umringte die Kämpfer und feuerte sie an.
»Gib’s dem Schwarzen!«
»Mach ihn fertig, den Schwulen!«
Kurz, das Volk amüsierte sich auf uralte Weise, wie bei Gladiatorenkämpfen. Untermalt wurde die Prügelei von den Klängen eines beliebten Schlagers – die ganze Stadt sang die Moskauer Abende . Der Schwarze versetzte dem Schotten einen vernichtenden Schlag, und der Mann im Rock fiel
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