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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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ihnen die Worte.
    Bekümmert schwiegen sie eine Weile, brummten etwas und trennten sich.
    Von der Straße drangen noch immer Musikfetzen herein: »Wenn es Abend wird in der großen Stadt, wenn die ersten Lichter erglühn, ja, dann denke ich noch so oft daran, wie es einst mit uns zwein begann.«
    Die braune Aktentasche mit den Büchern vergaß Micha unter der Bank. Auch Sanja dachte nicht mehr daran.
    Der Hauswart Onkel Fedja, kurzzeitig fast nüchtern, ging sein Revier fegen. Er fand die Aktentasche – sie enthielt nichts Lohnendes. Irgendwelche Bücher. Bei nächster Gelegenheit übergab er sie dem zuständigen Milizionär.
    Den dicken Orlow hielten die Eltern seiner Exfrau für einen Volltrottel, und seine Ernennung zum Diplomaten in Russland hatte sie sehr erregt – er war seit 1918 der erste, der die Grenze ihrer Heimat in umgekehrter Richtung passierte.
    Die Aktentasche enthielt ein wertvolles Geschenk – sechs Nummern der Emigrantenzeitschrift »Westnik RSChD« und die im Verlag »Possew« gerade erschienene russische Übersetzung von Orwells 1984 . Das Schlimme daran war jedoch nicht, dass die Jungen dieses Buch erst fünf Jahre später lesen würden, als Fotokopie, das Schlimme war, dass in einem Seitenfach der Aktentasche ein Brief von Orlows Frau Mascha lag, die ihn verlassen hatte. Er war mit Diplomatenpost gekommen, auf dem Umschlag stand Orlows Name – man konnte ihn also mühelos ausfindig machen.
    Die Weltfestspiele waren vorbei. Die von schwarzhäutigen Studenten geschwängerten Mädchen hatten ihre Schwangerschaft noch nicht bemerkt, Orlow aber bekam bereits Schwierigkeiten. Glücklicherweise wurde er zwar nicht eingesperrt, aber unverzüglich ausgewiesen. Mit der Diplomatenkarriere war es aus. Seine Exfrau und deren Eltern sahen sich darin bestätigt, dass Nikolai Iwanowitsch ein Volltrottel war und zu nichts taugte.
    Dafür kamen die Jungen vollkommen ungeschoren davon.

Das grüne Zelt
    Olga, ein festes gelbrosa Zwiebelchen mit seidenweicher zarter Haut, ohne jede faule oder eingedrückte Stelle, gefiel Männern wie Frauen, Katzen wie Hunden. Unglaublich, dass sie, dieses gesunde, fröhliche Wesen mit den Lächelgrübchen, von so düsteren, nicht mehr jungen Eltern stammte, karrierebewussten Parteimenschen mit großen geheimen Verdiensten und offenkundigen Insignien des Wohlwollens der Staatsmacht – Orden, personengebundenem Dienstwagen, einer Datscha in einer Generalssiedlung und Lebensmittelzuteilungen in braunen Papiertüten und Pappkartons, die aus einem Sonderdepot direkt ins Haus geliefert wurden.
    Noch erstaunlicher und unerklärlicher war, wie gläubig sie alles Gute aufnahm, das die Eltern sagten, und das Schlechte, das sie taten, gar nicht bemerkte. Sie war ehrlich und prinzipientreu, stellte gesellschaftliche Interessen stets über private; den Hass auf die Reichen (wo waren die eigentlich?) hatte sie ebenso verinnerlicht wie die Achtung vor dem arbeitenden Menschen, zum Beispiel vor der Haushaltshilfe Faina Iwanowna, vor dem Fahrer des väterlichen schwarzen Wolgas, Nikolai Ignatjewitsch, und vor dem des grauen Wolgas der Mutter, Jewgeni Borissowitsch.
    Es war so leicht und schön, ein gutes sowjetisches Mädchen zu sein! Das Pionierlager Artek mit den blauen Nächten und den roten Halstüchern ließ sich wunderbar vereinbaren mit der Lebensmittelsonderzuteilung, die personengebundenen Dienstwagen der Eltern, die Olga samstags auf die Datscha brachten, harmonierten durchaus mit Gleichheit und Brüderlichkeit. Olga trug niemandem gegenüber eine Schuld, und freudig und sorglos liebte sie Lenin-Stalin-Chrustschow-Breshnew, die Heimat und die Partei. Sie war moralisch gefestigt, wie es in ihrer Beurteilung hieß, als sie in der siebten Klasse in den Komsomol eintrat, und in höchstem Maße politisch gebildet.
    Olgas Vater Afanassi Michailowitsch war Offizier, Experte für militärische Bauten, ihre Mutter Redakteurin einer pädagogisch ausgerichteten Literaturzeitschrift.
    Antonina Naumowna (sie entstammte einer orthodoxen Familie, die ihren Kindern die Namen von Heiligen gab, war also keineswegs Jüdin) hatte am Institut für Geschichte, Philosophie und Literatur studiert, das heißt, sie war praktisch Schriftstellerin. Auch Olga begann auf Beschluss der Eltern ein Philologiestudium, an der Universität.
    Das erste Studienjahr ließ noch nichts Böses ahnen: Das Mädchen stürzte sich freudig in die gesellschaftliche Arbeit, wurde in die Komsomolleitung gewählt, studierte eifrig

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