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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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schicksalsträchtigen Papier.
    »Sie sind entlassen!«
    Es klopfte. Die Ljurssy suchten ihren Lehrer. Sie hatten nämlich etwas mitgebracht. Kein billiges Gesöff, sondern guten georgischen Wein.

Völkerfreundschaft
    Es war das Jahr 1957. Moskau war in heller Aufregung vor den Weltfestspielen der Jugend und Studenten, die demnächst eröffnet werden sollten. Die Abiturienten bereiteten sich auf die Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen vor. Der Statuswechsel vom einfachen Jugendlichen zum Studenten garantierte außer dem Zugang zu höherer Bildung auch eine Befreiung vom Militärdienst. Alle büffelten von früh bis spät, Viktor Juljewitsch arbeitete täglich mit seinen Privatschülern, zu denen er unentgeltlich auch einige der »Seinen« gesellte.
    Dem Trianon drohte kein Militärdienst. Ilja war mit außerordentlichen Plattfüßen gesegnet, Micha war kurzsichtig, und Sanja taugte mit seinen krummen Fingern ebenfalls nicht als MPi-Schütze. Ilja lernte nur träge, Sanja, der sich auf Anraten seiner Großmutter am Institut für Fremdsprachen beworben hatte, lag auf dem Sofa, hörte Musik und las, auch fremdsprachige Bücher. Am schlechtesten war Micha dran: Nicht nur, weil er es als Jude besonders schwer hatte, sondern auch, weil er als Einziger ernsthaft auf ein Stipendium angewiesen war. Die verwandtschaftliche Unterstützung war ihm nur bis zur Beendigung der Schule zugesichert worden. Natürlich konnte er schlimmstenfalls ein Abendstudium aufnehmen, aber er wollte gern ein richtiger Student sein.
    »Ich verstehe euren Hang zu den Geisteswissenschaften nicht. Bücher lesen, verstehen und sein Vergnügen daran haben ist das eine, aber warum aus dem Vergnügen einen Beruf machen?« Ilja verachtete die Philologie und traf seine eigene Wahl – das Leningrader Institut für Filmtechnik, das LIKI.
    Er hatte einen Onkel in Leningrad, der hatte sich nach dem Tod von Iljas Vater gemeldet. Bei ihm konnte Ilja bis zum Studienbeginn wohnen. Sobald er sein Zeugnis in der Hand hatte, fuhr er nach Leningrad. Er hatte auf nicht ganz redliche Weise eine Menge Geld verdient, anderthalbtausend Rubel, drei Monatsgehälter seiner Mutter. Neben den Aufnahmeprüfungen am Institut wollte er sich in Leningrad auch amüsieren.
    Das Institut für Filmtechnik gefiel Ilja sehr. Sein Onkel Jefim Semjonowitsch hatte gesagt, Iljas Vater habe vor dem Krieg dort gearbeitet, und es gebe noch immer einige Leute, die ihn gekannt hätten. Er telefonierte herum, aber leider war von denen, die Issai Semjonowitsch gekannt hatten, niemand mehr da, und die da waren, erinnerten sich nicht an ihn.
    Ilja verließ Leningrad an dem Tag, als er erfuhr, dass der Beginn der Aufnahmeprüfungen mit der Eröffnung der Weltfestspiele in Moskau zusammenfiel. Dieses große Ereignis konnte er nicht versäumen. Er nahm seinen Fotoapparat und kehrte nach Moskau zurück, seinen Ausweis ständig griffbereit – vom Kauf der Fahrkarte bis zur Ankunft zu Hause musste er ihn insgesamt fünfmal vorzeigen: Milizionären, Kontrolleuren, freiwilligen Ordnungskräften und Leuten, die einfach mal einen Blick auf seine Papiere werfen wollten. Nach Moskau wurden nur Moskauer gelassen.
    Ilja schaute bei Micha vorbei. Micha war doch tatsächlich Student geworden. Allerdings nicht an der philologischen Fakultät der Universität, sondern am bescheideneren pädagogischen Institut, wo, einem populären Scherz zufolge, auf acht Mädchen nur zwei Jungen kamen, von denen der eine schielte und der andere humpelte. Ehrgeizige junge Männer ohne Handicap rissen sich nicht um einen Studienplatz am pädagogischen Institut.
    Micha hatte die Aufnahmeprüfungen mühelos bestanden. Sein vorteilhaftes Geschlecht und seine guten Leistungen wogen schwerer als seine unvorteilhafte Nationalität. Doch der Triumph war vergiftet: An dem Tag, als er seinen Namen in der Liste der Angenommenen las, war die arme Minna, die er kein einziges Mal im Krankenhaus besucht hatte, an einer Lungenentzündung gestorben. Sie bekam dreimal im Jahr eine Lungenentzündung – wie hätte er ahnen sollen, dass dies ihre letzte war?
    Nun war er allein mit seinem schrecklichen Geheimnis und seiner Scham, und diese Last würde er bis ans Ende seines Lebens mit sich herumtragen. Die schwachsinnige Minna war in ihn verliebt gewesen, und er hatte sich nach und nach in ein eigenartiges sexuelles Verhältnis verstrickt, anders konnte man es nicht nennen, obwohl das, was zwischen ihnen beiden geschah, auch kein richtiger Sex war.

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