Das gruene Zelt
Weile zurück, zerstritten sich und prügelten sich nun miteinander. Die Klasse spaltete sich in zwei Lager und führte ein aufregendes Leben mit feindlichen Aufklärern, Überläufern, Verhandlungen und Zusammenstößen. Kampfgeist hatte die Mehrheit erfasst, die Minderheit aber entspannte sich und genoss die Ruhe.
Nach drei Wochen kam Sanja mit verbundener Hand für ein paar Tage in die Schule, dann bekam er eine Angina und tauchte bis zum Ende des dritten Schulquartals nicht mehr auf. Ilja und Micha besuchten ihn fast täglich und brachten ihm die Hausaufgaben. Anna Alexandrowna bewirtete sie mit Tee und Apfelkuchen, den sie pie nannte. Das war das erste englische Wort, das Micha lernte. Sanja lernte von klein auf Englisch und Französisch. In der Schule fingen sie in der fünften Klasse mit Deutsch an, das sie hassten. Doch da zeigte sich Anna Alexandrowna überraschend streng, sie gab Sanja zusätzliche Deutschstunden und lud zur Gesellschaft auch seine Freunde dazu ein. Ilja drückte sich, Micha aber eilte stets herbei wie zu einem Fest. Anna Alexandrowna schenkte ihm auch noch ein altes Englischbuch für Anfänger.
»Hier, Micha, bei deinen Fähigkeiten kommst du damit allein zurecht. Ich gebe dir ein paar Stunden wegen der richtigen Aussprache.«
So wurden Micha großzügige »Brosamen vom Herrentisch« zuteil.
Sanja war in einer seltsamen Verfassung: Die beiden leicht gekrümmten Finger störten nicht und fielen auch nicht auf, denn niemand hält die Finger ständig gestreckt. Aber sie bedeuteten eine radikale Veränderung seines Lebens, eine radikale Veränderung seiner Pläne. Er hörte tagelang Musik und genoss sie wie nie zuvor: Es kümmerte ihn nicht mehr, dass er nie so spielen würde wie die großen Pianisten. Der mangelnde Glaube an sein Talent fraß nicht mehr an ihm. Lisa verstand ihn – als Einzige!
»Du bist jetzt freier als diejenigen, die unbedingt Musiker werden wollen. Ein bisschen beneide ich dich …«
»Und ich dich«, bekannte Sanja.
Sie gingen oft zusammen zu Konzerten ins Konservatorium: Anna Alexandrowna mit Sanja, Lisa mit ihrem Großvater, oft schloss sich ihnen irgendeine Freundin oder Verwandte der Großmutter an. Wenn Lisas Vater Alexej Wassiljewitsch, Chirurg wie sein Vater Wassili Innokentiewitsch, nicht so viel zu tun hatte, kam auch er mit, und dann sah man die große Ähnlichkeit zwischen den dreien: Längliches Gesicht, hohe Stirn, schmale, kaukasisch gebogene Nase. Doch damals schienen alle Konservatoriumsbesucher miteinander verwandt, zumindest aber bekannt zu sein. Es war ein besonderes Völkchen, das nicht weiter auffiel in der riesigen Millionenstadt – fast wie ein religiöser Orden, eine verborgene Kaste oder ein Geheimbund.
Zu Beginn des Jahres häuften sich die Ereignisse.
Aus Leningrad reiste Iljas Vater an, Issai Semjonowitsch. Er kam ein-, zweimal im Jahr zu Besuch und brachte immer Geschenke mit. Auch im letzten Jahr hatte er Ilja etwas Gutes geschenkt, einen deutschen Zirkelkasten, aber der war nur schön und sonst zu nichts nütze. Doch diesmal brachte er einen Fotoapparat mit, eine FED-S, ein Vorkriegsprodukt, hergestellt von Halbwüchsigen in der Erziehungs- und Arbeitskommune »Felix Dsershinski«, eine exakte Kopie der deutschen Leica. Iljas Vater hing an der alten Kamera – er war Kriegskorrespondent gewesen und hatte sie fast drei Jahre lang ständig bei sich gehabt –, und nun schenkte er sie seinem einzigen Sohn, der aus einer Urlaubsromanze mit der unscheinbaren, damals schon nicht mehr jungen Maria entstanden war. Maria erwartete nichts und verlangte nichts von ihm, sie liebte still ihren Sohn und freute sich, dass Issai sie nicht im Stich ließ und ihr manchmal Geld gab, mal ganz viel auf einmal, dann wieder lange sehr wenig. Liebkosungen verweigerte sie ihrem einstigen Liebhaber, womit sie sein Interesse an sich wachhielt. Sie lächelte, setzte ihm Selbstgebackenes vor, bezog ihm das Bett mit raschelnder gestärkter Wäsche und legte sich zu ihrem Sohn aufs Sofa, in Löffelchenstellung. Issai aber bestaunte sie immer mehr und dachte immer häufiger an sie.
Um den Fotoapparat tat es ihm ein wenig leid, aber er überwand seine Anhänglichkeit an den treuen und nützlichen Gegenstand – das Schuldgefühl gegenüber dem Jungen war stärker. Zumal er noch bessere Kameras hatte. Und außerdem eine Familie, zwei geliebte Töchter, die sich kein bisschen fürs Fotografieren interessierten. Der Junge aber bebte förmlich vor Freude über das
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