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Das Gutachten

Das Gutachten

Titel: Das Gutachten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sina Cartier
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Der mir mal ein Kompliment für meine Klamotten
gemacht hat oder dem aufgefallen war, dass ich die Haare anders trug.
    Ich habe dann immer
versucht, bei den Mahlzeiten neben ihm oder ihm gegenüberzusitzen. Dabei habe
ich immer ganz zufällig meine Beine so gestellt, dass er mich unter dem Tisch
berühren musste. Also, ich habe meine Beine nicht an seine gerieben, sondern
dafür gesorgt, dass er es zwangsläufig macht. Er hat aber nie weggezuckt. Im
Gegenteil: Wenn ich ihm gegenübersaß und sich unsere Knie unbemerkt von den
anderen trafen, zwinkerte er mir kurz zu und lächelte mich an.«
    Sandra machte eine kurze
Pause und Dr. Renn setzte sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl.
    »Naja, irgendwie war ich
halt in ihn verknallt und dachte, er auch in mich. Deshalb habe ich dann an
einem Morgen gewartet, dass der Rest der Familie aus dem Haus war und bin nackt
ins Bad gegangen, als ich ihn darin gehört habe.
    Er stand vor dem Spiegel
und rasierte sich. Als ich die Tür öffnete und so tat, als wäre ich überrascht,
sah er mich einfach nur an. Ganz lange und sozusagen überall.
    Ich stammelte dann etwas
von ‚Tschuldigung, ich wollte nur duschen‘ oder so etwas in der Art, aber er
blieb einfach stehen und verzog für eine Ewigkeit keine Miene, regte sich nicht
mal besonders.
    Martin meinte dann nur,
dass es ihn nicht stören würde, wenn ich unter die Dusche ginge, er müsse sich
halt noch zu Ende rasieren. Dabei lächelte er zum ersten Mal und blickte mich
so fest an, dass ich beinahe ferngesteuert in die Kabine ging.
    Er blieb die ganze Zeit
über im Bad, selbst als er mit dem eigentlichen Rasieren längst fertig war. Er
setzte sich auf den Rand der Badewanne, sah mir zu und schwieg. Ich weiß noch,
dass mich dieses Schweigen fast wahnsinnig gemacht hat. Ich selber habe keinen
Ton herausgebracht, habe mich nach dem Duschen abgetrocknet und eingecremt und
Martin saß die ganze Zeit schweigend da, wenn ich ihn anschaute, lächelte er
mir zu, sagte oder machte aber nichts.
    Irgendetwas war in seinem
Blick. Das habe ich damals schon nicht verstanden und kann es bis heute nicht
erklären. Als ob er mich nur mit seinen Augen kontrollieren konnte. Ich war
irgendwie gar nicht mehr ich selber.«
    Sandra schwieg. Es war
offensichtlich, dass diese Erinnerung, obwohl sie nur einen relativ kurzen
Moment in ihrem jungen Leben darstellte, sehr tiefe Spuren hinterlassen hatte.
    Nach einem Moment fragte
Dr. Renn: »Wie war dein Verhältnis anschließend zu deinem Onkel? Hat sich so
eine Situation wiederholt?«
    »Gewissermaßen schon.
Also, meistens waren ja auch meine Eltern da und dann war er so wie immer.
Manchmal etwas schweigsamer, aber gerade dann hat er wieder so intensiv
geschaut, dass ich eine Gänsehaut bekam.
    Aber einmal, als ich vom
Tennis kam, war er alleine in unserer Wohnung. Nach der Begrüßung lächelte er
und fragte, ob es Spaß gemacht hätte, wie ich spielen würde und solche Sachen
halt. Dabei ging er ganz selbstverständlich mit in mein Zimmer. Geduscht hatte
ich schon auf dem Platz, aber ich hatte noch Sportklamotten an und wollte mich
umziehen.
    Er setzte sich auf den
Sessel in meinem Zimmer und meinte, dass mir das rote Top so gut stehen würde.
Martin machte keinerlei Anstalten das Zimmer zu verlassen und irgendwie wollte
ich ja auch, dass er dabei blieb und mir beim Umziehen zusah. Er lehnte sich in
den Sessel, schlug die Beine übereinander und guckte mich einfach nur an.
    Auf der einen Seite war es
ein wenig unheimlich, andererseits wollte ich das ja auch so. Also, ich weiß
nicht, ich kann das gar nicht beschreiben.«
    Sandra hatte während ihrer
Schilderung der Erlebnisse ganz unwillkürlich angefangen, ihren Schritt zu
kraulen und es nicht bemerkt. Nur ganz leicht, wie wenn man jemanden zart auf
der Wange streichelt, aber sehr regelmäßig, wie ritualisiert.
    Natürlich hatte Dr. Renn
dies bemerkt und machte sich eine sehr flüchtige Notiz.
    »Wir sind gleich fertig,
Sandra. Zum nächsten Mal möchte ich, dass du diese Geschichte noch einmal in
Worte fasst und aufschreibst. Du hast heute begonnen, dich deiner Vergangenheit
zu stellen, jetzt musst du diesen Prozess fortführen. Wenn du das tust, ziehe
dir wieder dein Oberteil aus, so wie du es heute getan hast. Und schreibe
wirklich alle, alle Details auf, die dir einfallen, auch wenn sie dir nicht so
wichtig erscheinen.
    Du darfst jetzt deine Sachen
wieder anziehen, gleich wirst du abgeholt und wir sehen uns übermorgen wieder.«

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