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Das Gutachten

Das Gutachten

Titel: Das Gutachten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sina Cartier
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    Die nächsten beiden Abende
verbrachte Sandra tatsächlich mit Schreiben. Sie hatte sich einen A4-Block mit
karierten Blättern sowie ein kleines gebundenes Buch besorgt. Da Schreiben in
Haft eine sehr wichtige Beschäftigung für viele Häftlinge ist, war es kein
Problem, als sie darum bat.
    Den Block wollte sie für
die Hausaufgaben von Dr. Renn und andere profaneren Dinge nutzen. Das Buch
wiederum hatte sie mit viel Sorgfalt ausgewählt. Zum ersten Mal in ihrem Leben
wollte sie Tagebuch schreiben. Natürlich kein simples Aneinanderreihen von
aktuellen Erlebnissen, dafür war der Tagesablauf im Gefängnis viel zu eintönig.
    Es sollte ein Buch über
ihr Innerstes werden, über die Dinge, die man nicht sieht, über den Teil ihres
Lebens, den sie selber gerade erst kennenlernte. Sie wollte ein Buch schreiben,
in das sie alles packen konnte, was sie bewegte, worüber sie sich Gedanken
machte und was sie verarbeiten musste.
    In den vergangenen Tagen
hatte sie sehr viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Bisher waren solche Momente
eher von schönen Erinnerungen oder Tagträumen geprägt, in denen sie sich etwas
vorstellte. Wirklich reflektiert hatte sie ihr Leben bis zum jetzigen Zeitpunkt
allerdings noch nicht.
    Sandra hatte immer viel
Wert auf ihr Äußeres gelegt. Selbst hier, wo sie sich nicht schminkte und nur
wenig Auswahl an Klamotten hatte, sah sie ausgesprochen attraktiv aus. Sie
hatte eine tolle Figur, schöne Haare, weiße Zähne – so wie eine echte Traumfrau
eben aussieht.
    In der Schule und später
im Studium war ihr alles zugefallen. Natürlich war sie fleißig und ordentlich
gewesen, musste aber nie viel lernen und galt daher auch nicht als Streberin.
Mit ihrem Abitur-Durchschnitt von 1,8 konnte sie sehr gut leben, auch wenn ihr
Bruder eine 1,6 geschafft hatte. Ihre Eltern vergaßen nicht, sie immer mal
wieder daran zu erinnern, wenn sich bei ihnen das Gefühl ausbreitete, Sandra
kümmere sich zu wenig um ihre Zukunft.
    Nachdem sie verhaftet
worden war, hatten sich ihre Eltern nicht mehr blicken lassen. Einmal ganz am
Anfang war ihr Bruder aufgetaucht und hatte ein paar genehmigte Anziehsachen
und Bücher vorbeigebracht. Bei diesem Besuch stellte er jedoch ganz klar, dass
dies der Letzte gewesen sei und die Familie nicht vorhätte, sie bei dem Prozess
in irgendeiner Form zu unterstützen.
    Da Sandras Eltern
grundsätzlich noch unterhaltspflichtig waren, mussten sie die Anwaltskosten für
ihre Tochter übernehmen. Ihr Vater schrieb aber der Kanzlei, dass er nur bereit
sei, den Mindestsatz zu übernehmen, zu dem er gesetzlich verpflichtet sei.
Außerdem hoffe er, der Richter würde sie hart verurteilen. Ein besonderes
Engagement würde die Familie vom Anwalt nicht erwarten. Zu beschädigt sei der
Name, mit Sandra wolle die Familie weder in der Gegenwart noch in Zukunft etwas
zu tun haben.
    Selbst ihre Mutter, zu der
Sandra immer ein gutes Verhältnis gehabt hatte, war dermaßen bestürzt gewesen,
als sie die Vorwürfe gegen ihre Tochter gehört hatte, dass sie mehrere Minuten
zu keinerlei Regung in der Lage gewesen war.
    Unmittelbar nach der
Verhaftung hatte man ihre Eltern angerufen und sie als nächste Angehörige ins
Präsidium gebeten. Während der Beamte mit Sandras Vater sprach und Sandra in
Handschellen danebenstand, saß ihre Mutter wie erstarrt am Schreibtisch des
Beamten und rührte sich nicht.
    Als Sandra dann
hinausgeführt werden sollte, stand sie auf, blickte ihre Tochter aus leeren
Augen an und gab ihr eine schallende Ohrfeige, noch bevor jemand im Raum eingreifen
konnte.
    »Komm mir nie wieder unter
die Augen, hast du mich verstanden? Nie wieder!« Das waren die letzten Worte,
die Sandra von ihrer Mutter gehört hatte.
    Dabei war ihre Familie am
Anfang ganz hin und weg gewesen, als sie Chris das erste Mal mit nach Hause
brachte. Sandras Vater kannte natürlich Christoph Friedrich Wagner senior und
war mächtig stolz, dass seine Tochter offensichtlich eine so gute Partie
gemacht hatte. Chris wurde schnell als der mögliche Schwiegersohn akzeptiert
und durfte sogar im Hause Kaminski übernachten.
    Das taten sie allerdings
sehr selten, lieber blieb Sandra bei Chris, denn der hatte ja schon eine eigene
Wohnung. Und da er so seine eigenen Vorstellungen davon hatte, wie man
gemeinsam seine Zeit miteinander verbringt, waren sie in Chris‘ Wohnung ungestörter.
    Überall wo er hinkam, war
Christoph schnell der Mittelpunkt. Bei jeder Party drängelten sich Gäste bald
um ihn: Er war natürlich

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