Das hätt' ich vorher wissen müssen
nichts.
»Zähne wie die Sterne – abends kommen sie raus!« hatte Omi immer gelästert, wenn meine Mutter vor dem Abendbrot im Bad verschwunden war und ihre Behelfsprothese auf der Ablage über dem Waschbecken deponiert hatte. Wenn sie trotzdem mal kaputtging, wurde eine neue angefertigt. Ob ich das bei Sven auch probieren sollte?
Zuerst sträubte er sich, aber nach mehreren mißlungenen Versuchen hatte ich endlich etwas zusammengeformt, das halbwegs wie ein Zahn aussah. Der Sekundenkleber hielt, Sven sah wieder menschlich aus.
»Nicht mit der Zunge ran! Das Essen wirst du dir auch verkneifen müssen. Ist ja nur für ein paar Stunden.«
Jetzt mußte ich noch versuchen, meinen feingemachten Sohn zu einer etwas weniger auffallenden Kleidung zu bewegen. »Denk doch mal nach, Sven! Das Buch heißt ›Jeans und große Klappe‹, behandelt eure Teenagerjahre, als ihr allesamt vom Nabel aufwärts uniformiert herumgelaufen seid, und nun kommst du in diesem Sonntagsnachmittagsausgehdreß an. Das paßt einfach nicht zusammen! Tu mir den Gefallen und zieh dich um. Laß dir was von Sascha geben.«
»Die Hosen sind mir doch viel zu lang.«
»Menschenskind, dann krempel sie um! Ich denke, das spielt bei Jeans keine Rolle.«
»Das war mal. So was trägt heute kein Mensch mehr.«
»Dann bist du eben der erste, der wieder damit anfängt. Und jetzt sieh zu, daß du fertig wirst!«
In der Küche dekorierten die Zwillinge Kekse auf einer Tortenplatte. »Du mußt doch was anbieten.«
»Aber nicht auf rosa Preßglas. Holt mal die Kristallschale!«
»Willst du etwa dieses madige Gerät auf den Tisch stellen? Das Ding sieht doch ätzend aus.«
Das madige Gerät war aus handgeschliffenem Bleikristall und das bestgehütete Erbstück meiner Großmutter.
»Was soll es zu trinken geben?« Ich hatte gar nicht bemerkt, daß Rolf hinter mir stand. »Im Keller staubt eine Kiste mit leeren Colaflaschen vor sich hin, und sonst habe ich nur Apfelsaft und Mineralwasser gefunden.«
»Ist bei der Hitze auch viel gesünder«, entschied ich.
»Seit wann lebst du gesundheitsbewußt?« grinste er. »Vorsichtshalber werde ich zwei Flaschen Mosel kaltstellen.«
»Tu das! Die trinken wir heute abend, wenn der ganze Rummel vorbei ist.«
Steffi entkalkte den Kaffeeautomaten. »Schade, daß das nur bei Maschinen geht«, hatte sie gemosert, als ich sie darum gebeten und nebenbei erwähnt hatte, ich hätte es gestern noch tun wollen und dann doch vergessen.
»Sei ruhig, auch du wirst mal älter! Es ist nämlich die einzige Möglichkeit, lange zu leben.«
Drei Minuten nach zehn verteilten wir uns im Garten und hielten Ausschau nach den Besuchern. Um halb elf lagen die ersten Kippen in den frischgereinigten Aschenbechern, hatte Sven seinen Wachszahn verloren und mußte ihn neu festkleben, hatte Katja einen Brombeerstachel im Finger und Rolf den zweiten Kognak intus. »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, sagte er und goß den dritten ein.
»Vielleicht sind sie bloß deshalb unpünktlich, weil wir sonst glauben könnten, sie hätten nichts Wichtigeres zu tun.«
Endlich rollte das Auto auf den Parkplatz. WESTDEUTSCHES FERNSEHEN stand auf der Tür.
»Ich denke, die kommen von der Zeitung?« Mit einer Kehrtwendung verschwand Sascha im Haus. »Schönen Gruß. und sag denen, ich mußte dringend weg. Ich weiß zwar noch nicht, wohin, aber ich werde mich beeilen.«
»Du bleibst hier!« brüllte der Vater.
»Ich hau ab!« brüllte der Sohn.
»Seid doch endlich ruhig!« brüllte ich.
Da flammte das erste Blitzlicht auf, und eine vergnügte Stimme meinte: »Ich glaube, wir sind hier richtig.«
»Das war wohl auch nicht zu überhören«, entschuldigte ich mich, »aber mein Sohn wollte die Flucht ergreifen, nachdem er den Schriftzug auf Ihrem Wagen gesehen hatte.«
»Der hat nichts zu sagen, ich habe das Auto von einem Kollegen geliehen.« Der junge Mann gab mir die Hand. »Frau Sanders, wenn ich recht vermute? Mein Name ist Jügelt, und das ist meine Kollegin Hellmers. Komm, Sandra, sag mal schön guten Tag.«
Sandra konnte nicht, sie hatte alle Hände voll zu tun. Aus dem Badezimmerfenster hing Sven und wollte wissen, wer schon wieder die Nagelschere weggeschleppt habe. Er brauche sie dringend. Knips, und schon war sein aufgerissener Mund – ohne Zahn! – der Nachwelt erhalten. Steffi teilte ihrem Bruder nicht eben leise und auch in nicht eben feinen Worten mit, was sie von ihm hielt, während Nicki, um eine Ablenkung bemüht. Herrn
Weitere Kostenlose Bücher