Das Hagebutten-Mädchen
nickte ohne den Hauch eines Zögerns.
»Ich stelle mich also lieber gleich auf einen längeren Inselaufenthalt ein«, sagte Wencke und strich mit ihrer zierlichen Hand über eine alte Tuba, die voller Dellen und matt in der Ecke neben dem Schaufenster stand.
Axel Sanders konnte nicht umhin, sich über diesen Satz zu freuen. Trotzdem verkniff er sich einen dementsprechenden Gesichtsausdruck. »Es tut mir Leid, Frau Tydmers. Sie haben sicher genug um die Ohren in Aurich, und nun halten wir Sie hier auf Juist fest. Doch sicher verstehen Sie…«
»Ach, ist schon in Ordnung«, unterbrach sie ihn.
»Genau genommen kommt mir die Sache sehr gelegen.
Die in Hannover sollen ruhig einmal mitbekommen, was wir hier an der Küste zu tun haben, dann streichen sie mir meine Abteilung vielleicht nicht zu einem kläglichen Haufen zusammen. Wir haben nämlich gerade Besuch von Mister Spar-dich-reich und der sitzt jetzt in meinem Büro und kann sich das heillose Durcheinander einer unterbesetzten Polizeidienststelle live und in Farbe anschauen. Geschieht ihm recht.«
Zwei silberne Teestövchen rollten aus dem Schaufenster und kullerten scheppernd über den ausgetretenen Teppichboden. Die Männer hievten die Leiche aus ihrer engen Ruhestätte. Ein Brett mit Seemannsknoten rutschte hervor und verkeilte sich, als sie den schweren Körper um die Ecke zogen. Sanders berührte nicht gern tote Menschen, doch damit Kai Minnerts sterbliche Hülle nicht allzu unsanft auf dem Boden landete, griff er beherzt unter den massigen Oberkörper. Schließlich hatten sie den inzwischen steifen, seltsam verkrümmten Männerkörper befreit. Die Mütze des Toten rutschte nun vollends vom Kopf und gab das ruhige, rotnasige, etwas verlebt aussehende, schlafende Gesicht frei. Fast rutschte Axel Sanders ein geschmackloser Spruch über die Lippen, so etwas in der Art von »Guten Morgen, nun ist es aber wirklich höchste Zeit zum Aufstehen, Kai Minnert«. Zum Glück nur fast. Er dachte kurz an die vielen Biere, mit denen er gestern Abend noch genau diesem Mann hier zugeprostet hatte. Restalkohol macht ohne Zweifel unangemessen forsch und verwirrt, Restalkohol und die Anwesenheit einer Frau wie Wencke Tydmers.
Samstag, 20. März, 10.03 Uhr
K ai ist tot. Kai ist tot. Kai ist tot.
Astrid trank ihre Tasse Tee, so wie sie es jeden Morgen nach zehn Uhr tat, wenn die erste Etappe der Hausarbeit erledigt war. Gerrit würde nicht kommen. Seine Tasse stand unberührt der ihren gegenüber.
Merkwürdig, dass er tot war. Gerade noch hatte sie auf der Treppe mit der Borkumerin über den ewig lustigen Kai Minnert gesprochen, und nun wusste sie, er war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben gewesen. Seike hatte sie eben angerufen und es ihr erzählt. Sie wohnte im selben Haus wie Kai Minnert, doch er war angeblich nicht zu Hause, sondern im Laden gefunden worden. Seike wusste die Neuigkeit von einem Norderneyer Immobilienmakler, der sie seltsamerweise schon vor zehn in ihrem Haus besucht hatte.
Im Schaufenster soll er gelegen haben. Tot. Merkwürdig.
Astrid Kreuzfeldt war nicht sensationslüstern, nicht neugierig. Doch sie hätte gern gewusst, wie das aussah, ein regungsloser Mann, in dem das Leben sonst wie bei keinem anderen zu Hause gewesen war. Tot zu sein passte nicht zu Kai, auch wenn dies natürlich ein absurder Gedanke war.
Es war Seike Hikken hoch anzurechnen, dass sie ihr sofort Bescheid gegeben hatte. Vielleicht war Seike die einzige Freundin, die sich nicht diesem ewig neidischen Du-hast-es-so-gut-Gequake der anderen anschloss. Seike wusste, was der Tod von Kai für Astrid bedeuten konnte.
»Mama, der Kevin sagt, die hätten einen Toten gefunden!« Michel kam durch die Wintergartentür herein, seine Wangen leuchteten rot und gesund, wie Wangen leuchten mussten, wenn man schon seit zwei Stunden an der frischen Märzluft spielte. »Kann ich ‘ne Tasse Tee?« Ohne abzuwarten stieg Michel auf den Hocker und kletterte von dort auf die Küchenablage, um sich eine Tasse vom Regal zu fingern. Astrid kam manchmal gar nicht hinterher, so schnell und unaufhaltsam bewegte sich ihr Junge. Seine feinen blonden Haare schwebten elektrisiert um den Kopf herum, als er sich die Mütze vom Schopf zog. Sechs Jahre war er, ging schon zur zweiten Klasse, weil er gleich eine Stufe höher gesetzt wurde, als er beim Einschulungstest die Fibel des achtjährigen Nachbarmädchens mitbrachte und daraus fehlerfrei vorlas. Michel sah aus wie Astrids Bruder. Astrids Magen zog
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