Das Hagebutten-Mädchen
Elefantenkuh, ne? Sagt man doch, Elefanten könnten niemals vergessen, wenn ihnen jemand wehgetan hat.«
Wieder bekam er keinen Applaus für seine Ausführungen. Ein wenig enttäuscht schauten seine wasserblauen, in Speckfalten gebetteten Augen von Wencke zu Sanders. »Kann ich jetzt gehen? Das war es eigentlich, was ich Ihnen sagen wollte. Ich hoffe ja, dass sich die Spur als falsch erweist, schon wegen Michel Kreuzfeldt wäre es schrecklich, wenn die eigene Mutter…«
»Vielen Dank, Herr Feiken«, unterbrach Wencke die Spekulationen. »Ich bitte Sie, die Sache vorerst für sich zu behalten, auch wenn es sich um allgemein bekanntes Dorfgespräch handelt. Jedes Wort gegen einen Unschuldigen ist ein Wort zu viel und kann nicht zurückgenommen werden!«
Er erhob sich und der Stuhl seufzte erleichtert auf.
»Wird gemacht!« Dann verschwand der schwere Mann aus dem winzigen Büro. Auf einmal erschien der Raum riesig und hell.
»Kannten Sie die Geschichte schon?«, fragte Wencke.
»Nein, diese kannte ich nicht, aber wenn sie schon fünfzehn Jahre alt ist, dann ist sie vielleicht auch schon länger nicht mehr erzählt worden. Für eine unterschriebene Zeugenaussage reicht ein solches Gerücht sowieso nicht, wir sollten den Zettel hier«, Sanders druckte gerade kopfschüttelnd das Protokoll aus, »den sollten wir so schnell wie möglich ganz weit hinten abheften.«
Wencke lachte. »Der Zöllner hat uns ja vorgewarnt, dass wir einen ganzen Haufen solcher Geschichten erzählt bekommen werden. Ich bin ja mal gespannt auf die Akte, die wir hier in den nächsten Tagen zusammenstellen werden. Kurioses von der Insel könnte auf dem Buchrücken stehen.«
Auch Sanders schien wieder vergnügter zu sein. Er rieb sich zwar die Schläfen, als versuche er, eine Migräne in Schach zu halten, doch er war trotz allem besserer Laune, als er es jemals in ihrer gemeinsamen Zeit in Aurich gewesen war. »Na, dann will ich mal den nächsten Münchhausen hereinlassen«, feixte er und ging zur Tür.
»Halt, bevor ich es vergesse, Sanders…« Er hielt inne, als erwarte er eine Standpauke, und Wencke musste schon wieder lachen. »Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken. Sie wissen schon, die Sache mit der besten Ermittlerin für diesen Mordfall und so. Das war nett!«
»Das war fair«, sagte Sanders nur, dann trat schon der nächste Insulaner in das kleine Zimmer.
Samstag, 20. März, 11.00 Uhr
I hre Finger glitten über das samtige, fast schwarze Holz und die filigranen Windungen der Perlmuttarbeit. Ohne scharfe Kanten war die zauberhafte weiß schimmernde Figur in die kaum auszumachende Maserung des Holzes gebettet. Das winzige Mädchen hatte riesige Augen und ihr elfenhafter Körper, der von rauen Blättern umschlungen war, stieg aus einer bauchigen Hagebutte auf. Vielleicht war es kitschig, wenn man das Motiv für sich sah, inmitten der rankenden Ornamente jedoch konnte man sich dem verspielten Charme nicht entziehen.
»Es ist ein wunderschönes Instrument«, sagte Astrid leise und ließ ihre Finger über die elfenbeinfarbenen Tasten des Akkordeons gleiten. »Wunderschön!«
Sie war froh, dass sie etwas hatte, auf das sie ihren Blick heften konnte und das ihre Hände beschäftigte. Die Befangenheit zwischen ihnen schien unüberwindbar, seitdem er ihr die Tür geöffnet und sie wortlos in das fremde Zimmer geführt hatte. Es war schwer, nach so langer Zeit die richtigen Worte zu finden, wenn man sich über Jahre noch nicht einmal bei einem zufälligen Treffen auf der Straße zu einem »Hallo« überwinden konnte.
»Es ist gut, dass du gekommen bist!«, flüsterte Henner endlich. Er sah miserabel aus, die blauen Augen stachen aus seinem fleckigen Gesicht hervor, waren wie überschwemmt, wie entzündet. So viel Schmerz hatte sie nicht erwartet.
Schüchtern fasste Astrid nach der Hand ihres Bruders.
»Die Polizei kommt gleich, verdammt, das wird schwer. Kannst du dabei bleiben, wenn sie mich verhören? Ich wäre froh, wenn ich das nicht allein durchstehen muss.«
»Sie werden dich nicht verhören, Henner, das hört sich ja schrecklich an. Sie haben sicher nur ein paar Fragen, und wenn sie mich lassen, dann bleibe ich selbstverständlich bei dir.«
Sie hatte ihn lange nicht mehr richtig angeschaut.
Seine blonden Haare waren dünner geworden, sein schmales Gesicht zeigte feine Fältchen. Man konnte sehen, dass er bald vierzig wurde. Er lag auf dem Sofa, seine langen Beine hingen über der samtbezogenen Lehne und sein Kopf war auf
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