Das halbe Haus: Roman (German Edition)
das seit Jahrhunderten tapfer am Rand der Kurmark Wacht hielt. Wo fing es an, dieses Deutschland, und wo hörte es auf? Gottlob war die Post jetzt unterbrochen.
»Wie stellst du dir die Zukunft vor?«, fragte Arthur seine Schwester, die doch kein dummes Huhn war. Die Stadt sei Garnisonsstadt mit vier Kasernen, einem Militärflugplatz und mehreren Versorgungseinrichtungen der Wehrmacht. Auf dem Weg nach Berlin sei das ein wichtiger Brückenkopf, den die Rote Armee im Handumdrehn besetzen werde, er wisse es aus sicherer Quelle.
Polina zuckte nicht einmal mit den Schultern. An so etwas Lachhaftes wie eine Zukunft konnte sie beim besten Willen keinen Gedanken verschwenden. Sie dachte bis zur Grenze des Tages. »Ich warte hier«, sagte sie. – »Hast du etwa auch Wurzeln geschlagen«, fragte Arthur. – »Ich warte einfach hier«, wiederholte sie. – »Doch nicht auf den Goldfasan«, sagte Arthur. – »Auf unsere gerechte Strafe«, sagte sie und war nicht weniger überrascht als der Bruder.
Am nächsten Morgen gingen sie zum Haus der Eltern. Arthur schob den Kinderwagen, als sei er der Vater. Rudolf war dick eingepackt, war nur Augen. Polina trug einen Tornister mit Windeln, Milchpulver, Rosinen, Tomatenmark, Wolle, Strickzeug und dem Fotoalbum auf dem Rücken. Dreimal hatte sie ihre eheliche Wohnung abgeschlossen. Auf der Brücke kam ihnen ein Mann mit Drahtverhau im Gesicht entgegen. Der Mann schob auch einen Kinderwagen, aber es lag kein Kind darin. Hinter ihm ging eine frierende Frau, den einen Schritt tat sie im Schnürstiefel, den andern im Holzschuh. Dahinter kamen Greise, Frauen und Kinder gegangen, kamen gefahren. Die Kinder bogen zum Fluss und füllten Eimer und Kannen, sie führten Ochs und Pferd zum Saufen. Wagen an Wagen schlängelte sich der Treckwurm durch die Oststadt: Heuwagen, Leiterwagen und Karren mit Bündeln und Ballen und immer wieder Kinderwagen ohne Kinder. Die Flüchtlinge waren stumm vor Hunger und dem erblickten Grauen. »So sind wir vor vier Jahren hier angekommen«, sagte Arthur. »Das ist unsere Vergangenheit und die Vorwegnahme unseres Schicksals.« Die Vorsehung, dachte Polina, meint es wohl doch nicht gut mit dem deutschen Volke, ja hat es denn das deutsche Volk mit der Vorsehung gut gemeint?
Arthur blieb. Am 6. Februar wurden Schwangere und Mütter mit kleinen Kindern aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Am Bahnhof stand ein Zug für sie bereit, Personalausweise, Lebensmittelkarten, Kleiderkarten waren mitzunehmen. Die Fabriken evakuierten die wertvollen Stoffe und Filze, ihre LKW s nahmen auch Menschen mit. Nun ade, du mein Heimatland. Hatte Liesl den Zug oder einen der LKW s bestiegen? Was geschah mit all den Hüten, denen es in den letzten Jahren an Köpfen gemangelt hatte? Und war Liesls Sohn, der kleine Martin, immer noch so gelb im Gesicht?
Im Abstand von nur einer Woche hatten Rudolf und Martin das Licht der Welt erblickt, wie man so sagt. Ihre Zwillingsväter kannten die Zwillingsvettern nur von Fotos und einem Heimaturlaub. Nach dem Urlaub war der eine Vater freiwillig zurück zum Weltkrieg gegangen und der andere unfreiwillig.
Am 12. Februar rief ein anderer Martin Frauen und Mädchen auf, in den Volkssturm einzutreten. Ein neues Sirenensignal namens »Feinalarm« würde das Herannahen der Front anzeigen. In der Nacht zum 14. Februar wurde Dresden durch die Royal Air Force nahezu völlig zerstört, Sprengbomben deckten die Dächer ab, damit die Brandbomben besser wirken konnten. An eben diesem 14. Februar kam Tati mit Hacke und Spaten nach Hause und sagte, der Räumungsbefehl sei ausgegeben worden, alle sollten die Stadt verlassen. Für die Befehlsverweigerer kam drei Tage später der Feinalarm. Dann war es samstagsstill, und dann begannen die Fensterscheiben leise zu klirren.
Wer schon einmal Grund und Boden lassen musste, der besteigt keinen Zug und keinen LKW , der räumt das Haus nicht, das er zu besitzen glaubt. Der hockt sich mit seinen Kindern, darunter drei Töchter, in seinen Keller, den er zuvor durch Holzbalken abgestützt hat. Der igelt sich ein und hofft, dass der Feind über ihn hinwegbraust auf dem Weg nach Berlin. Wer allerdings auf eine gerechte Strafe wartet, der denkt bis zur Grenze des Tages, an dem Licht in den Keller fällt. Besser heute als morgen.
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Leben setzt sich durch. Leben ist Überleben, Unkraut vergeht nicht, Ordnung ist das halbe Leben. So sagt die Frau und sieht herüber. Wer ist diese Frau? Sie hat die gelben Hände
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