Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Volksmund zu, Polina und Katja besorgten das selbst.
Wer die Anhöhen hatte, der hatte die Stadt. Die Höhen im Osten hießen in jenem zugehaltenen Volksmund »Lustberge«. Die schweren Kämpfe bis in den März galten allein ihnen. Die Wolfhöhe wechselte 147-mal den Besitzer, die Bismarckturm-Höhe elfmal an einem Tag. Schulen, Kirchen und Wohnhäuser fielen in Schutt und Asche – die Hand vorm Mund, das war die Geste dieser Tage und Wochen.
Tati nahm die Hacke und hieb dem Landser, der wie eine tote Ratte im Stroh lag, ein Grab. Arthur half mit dem Spaten, den Lehm stampften die drei Schwestern wieder fest, zum Tanze geht ein Madel. Mit der Stricknadel ritzte Polina ein Kreuz in den Boden, ohne Haken, und streute Stroh darüber.
In den Feuerpausen trug Arthur Stuhl, Decken, Volksempfänger, Spiegel, Schüssel, Mehl und Salz herunter. Er erzählte ihnen, was sie längst wussten: Die sowjetische Luftwaffe flog regelmäßig die Stadt an und unterstützte mit Raketen und Bordwaffen die Bodentruppen. Die Altstadt stand in Flammen, ein gewaltiger Feuerschein ragte empor. Staffeln von bis zu zwanzig Schlachtflugzeugen schwärmten zwölf- bis fünfzehnmal am Tag heran, sie zählten mit. Bei den schwersten Detonationen flogen den Mädeln die Röcke hoch, ein neuer Tanz begann. Ein Assel-Treckwurm zog über die Ziegel und verschwand in einem schwarzen Loch. Der Mensch kann sich wohl zusammennehmen, aber dieses abscheuliche Zittern seiner Gliedmaßen kann der Wille nicht verhindern. Über ihnen war der Tod, daran änderte auch der Obstwein nichts.
Arthur schlich dennoch nach draußen, um die eingelagerten Kartoffeln aus der kleinen Miete hinter der Laube zu holen. Das Kleinvieh machte keinen Mist mehr, und der Nachbar und seine Frau, alte Leute, wurden mit erhobenen Händen erschossen. Einfach so, weil Krieg war. ’s ist leider Krieg, und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.
»Es sind eben doch keine Menschen«, sprach Tati. – »Wer ist wohl jetzt noch ein Mensch«, sprach Arthur. So langsam gingen ihnen die Gründe, der Wein und der Mut aus, Polina die Wolle. Am soundsovielten Tag sagte sie: »Ach, hätt ich doch bloß nicht immer nur linksrum gestrickt!« Alle mussten fürchterlich lachen, Polina auch. Sie ribbelte die Jäckchen und Söckchen auf und fing wieder von vorn an.
Zur Monatsmitte meldete der Rundfunk – stell es leiser, stell es leiser – eine deutsche Gegenoffensive zur Eroberung der Höhenkette. »Der Bolschewist ist vollkommen überrascht. Unsere Kanoniere haben einen hohen Feiertag. Diese urdeutschen Glockentöne fahren dem Bolschewisten in die Glieder. Er glaubte uns niedergekämpft, zermürbt, durch sein fast pausenloses Feuer in den vergangenen Tagen. Aber er weicht.« Während des Rückzugs musizierte der Bolschewist ein bisschen auf der Stalinorgel.
Arthur sagte, er wolle über den Fluss gehen und nachsehen, was von den Lebensmitteln in Polinas Wohnung noch übrig sei. Tati erinnerte sich daran, beim Volkssturm zu sein. Er zog die Armbinde über und nahm die Panzerfaust aus der Holzkiste. Auf dem Merkblatt, das er in der Kiste ließ, stand: »Die Panzerfaust ist Deine Pak! Du kannst mit ihr jeden Panzer bis auf Entfernung von 80 m abschießen. Lies Dir dies Merkblatt richtig durch, dann kann Dir, wenn es darauf ankommt, nichts passieren.« Pah!
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Geht denn die Post nicht mehr? Ist denn irgendetwas mit der Post nicht in Ordnung? Drüben, bei den alten Kollegen, oder hier, im Verteilerzentrum, oder wie sie das nennen? Denn die Post ist überfällig. Ein Brief von Eva, eine Karte von Jakob, ein Sterbenswörtchen von Frank gar. Sie werden ihn doch wenigstens schreiben lassen. Siegmar könnte zumindest ein Telefonat anmelden, dann erführe sie etwas, wenn es sein müsste, auch nachts um zwei, so wie neulich, als Eva sie aufweckte. Und warum antwortet ihr Helmut Kohl nicht? Dankt er ihr so die Wählerstimme? Gleich nach der Wahl hat sie ihm geschrieben und dann wieder, als die Sache mit Frank passierte. Liest der denn seine Briefe nicht? Wozu ist der denn Bundeskanzler, wenn der seine Briefe nicht liest? Längstens hätte er ihr antworten müssen, da waren ja selbst die Unseren besser. Jeden Tag lauscht sie, ob der Zusteller kommt, manchmal, wenn ihre Fenster und die Hochhaustür offen stehen, hört sie das Klappern der Kästen. Als spielte einer Xylophon auf nur einem Ton. Obwohl sie müde ist, dreht sie sich dann aus dem Bett und zieht den neuen Morgenmantel über, den alten hat sie
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