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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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auf die Decke gelegt, die Decke ist fest über ihren Leib gespannt, und aus dem Rücken der einen Hand wachsen zwei Schläuche. Ihr Arm ist steif, die Hände sind wirklich gelb wie Zwiebelschalen, das muss vom Jod sein. Die Frau hat sich verletzt, die Frau ist gestürzt. Man weiß ja nie, was einem passieren kann, sagt die Frau, nuschelnd, man muss auf alles vorbereitet sein. Jeden Tag saubere Unterwäsche, als hätt ich’s nicht geahnt. Was wollt ich jetzt gleich noch mal sagen? Die Zähne der Frau sprudeln im Wasserglas. Auf dem Tisch steht ein schöner Tulpenstrauß. Ach ja, mein Gatte war da, sagt die Frau. Sie führt einen Gatten ins Feld, dabei trägt sie noch nicht mal einen Ehering, schönen Dank auch. Wer in dieser Generation, da die Frauen mit den Frauen schwofen, noch einen Gatten hat, der glaubt, den Hauptgewinn gezogen zu haben. Da lachen ja die Zähne. Einen Hauptgewinn hat gezogen, wer eben keinen Gatten mehr hat, so rum wird ein Wanderschuh draus, meine Gutste. Ein Kavalier in diesen Jahren, das geht gerade noch an. Alles andere ist perdu, man will vom Küssen nichts mehr wissen, jetzt ist der Altweibersommer da, und das Meer zieht alle Namen zurück. Die Wellen brechen, es ist ein Höllenlärm, ein Sirren und Schlagen, wie schafft man es, die Hände nicht vor die Scham, sondern oben zu halten? Nun bist du ruhig, du. Auch deine Zeit verrinnt, du. Springt da ein Tennisball, klickt da das Pendel eines Metronoms, oder ruckt da der große Zeiger der Bahnhofsuhr vor und vor, du doofes, dürres Huhn? Tulpen sind die einzigen Blumen, die in der Vase weiterwachsen, bevor sie welken, dein Deutsch hat Rost, ist siebenblättrig. Du musst die Sprache pflegen wie einen Garten, und du musst immer gut essen. Gesundheit ist das Wichtigste. Mein Gatte, sagt die Frau, kommt später noch mal wieder. Wer ist diese Frau? Eine Krankenschwester löst die Bremsen. Die Frau wird auf den Gang geschoben, gefolgt von ihrem Infusionsständer. Sie werden gleich abgeholt, sagt die Krankenschwester. Sie bekommen ein schönes Einzelzimmer, die schönen Blumen bringe ich nach, so schöne Tulpen. Alles schön. Die Frau liegt jetzt auf dem Gang. Neben ihr sitzt ein Mann in Latzhose. Ein blutiges T-Shirt hängt aus seinem Maul. Leben ist Krieg. Sind Sie der Golfschläger oder die Kettensäge?, fragt ein Sanitäter den Mann. Der Mann stöhnt ein Wort in sein T-Shirt. Ich habe Sie nicht verstanden, sagt der Sanitäter. Der Mann hebt das T-Shirt an und nuschelt: Ich bin die Flex. – Dann die Flex, sagt der Sanitäter. Haben Sie Ihre Versichertenkarte dabei? Der Mann nickt. Dann kommen Sie, sagt der Sanitäter, wir gehen zur Zahnklinik. Können Sie laufen? Wieder nickt der Mann und nimmt das T-Shirt aus dem Maul: Wieso Zahnklinik. Man versteht ihn kaum. – Die nähen am besten, und es soll doch nicht nur heil, sondern so schön wie vorher werden, sagt der Sanitäter. – Noch schöner, sagt der Mann. Das Maul des Mannes ist das Maul eines Welses. – Wenn es den Golfschläger, die Kettensäge und die Flex gibt, was bin dann ich?, fragt die Frau. Die Beule? Die Ohnmacht? Der Hinfall? – Sie sind der Apoplex und der Schulterbruch, sagt der Sanitäter. – Und wer bin ich?, fragt die Frau. Ach Gottchen, fährt sie sogleich selbst fort, ich weiß es ja: Ich bin ich. Mein Leben lang versuche ich, jemand anders zu sein, und begegne doch immer nur mir. Überall ich. Die Worte lösen sich schwer vom Gaumen. Das ist die Narkose, sagt der Sanitäter zu dem Mann in der Latzhose. – Weckt mich auf in einem Jahr, sagt ihm die Frau nach. Ordnung ist das halbe Leben. Nur was, bitte schön, ist die andere Hälfte? Was?
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    Alle Welt war starr vor Staunen, als im Herbst 1942 die Rote Armee zum Gegenschlag ausholte und die siegverwöhnte Wehrmacht über die Steppen jagte. Im schnellen Vormarsch warfen die russischen die deutschen Truppen bis hinter Rostow zurück. Im Frühjahr 1943 kam die Katastrophe von Stalingrad, und dann ging es Schlag auf Schlag: Rückzug von Kalatsch, von Woronesch, von Orel, von Kursk, von Wjasma und Brjansk. Charkow und Kiew gingen verloren, Dnjepropetrowsk und Kriwoi Rog, Nikolajew und Odessa, die Schöne am Schwarzen Meer, die Diva am Rand der alten Heimat. Die Deutschen zogen sich von Petersburg zurück, mussten Luzk und Rowno räumen, Tarnopol, Cernowitz, den gesamten Osten. Das Blatt hatte sich nicht nur gewendet, es brannte, und der Krieg, den die Deutschen in die Welt getragen hatten, kam zu ihnen zurück.
    1942

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