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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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so blass und fad aussieht, steht das Bärtchen am besten. Aber Frau Schreiber darf so etwas nicht denken. Aus dem Klassenzimmer der 6a holt sie sich einen der nicht kippelnden Stühle. Mit ihrer eigenen Watte und ihrem eigenen Nagellackentferner säubert sie die Bilder, die auf zwei Meter dreißig Höhe an der mit Ölfarbe gestrichenen Wand hängen, den hohen dunklen Flur rauf und runter. Regelrecht rubbeln und reiben muss die Horterzieherin Frau Schreiber, sodass der Saum ihres Rockes um ihre Waden schwingt. Herr Dr.   Müller, Frau Dornbusch, Herr Kretzschmann, Herr Baudach, Fräulein Papaioannou, ja, fast der gesamte Lehrkörper steht bleich im Flur, oben pendeln die Leuchten, unten Frau Schreiber, die Schüler der 7b, der 7a, der 6a und der 6b quellen schier aus ihren Klassenzimmern, deren Türen von Steinbögen eingefasst sind wie Kirchenpforten. Aus dem Jungenklo, dessen Tür auch so heilig umrahmt ist, tritt der Schüler Jakob Friedrich, klaß wosjem böh, und schlendert, unbemerkt von den verunstalteten Kommunisten, von der schwingenden Frau Schreiber und vom kopfschüttelnden Lehrkörper, zurück zu seinem Klassenzimmer.
    »Hier kam ein Qualitätsprodukt zum Einsatz«, sagt Frau Schreiber, »garantiert keines aus sozialistischer Herstellung.« Zum Beschriften der Folien, die auf den Polylux-Projektor gelegt werden – Tortenstücke von den Reichstagswahlen –, werden natürlich wasserechte Stifte von hier verwendet. Es sind dies wackere Folienstifte, aber wenn man ehrlich ist, und in solch einem Fall von reaktionärem Vandalismus sollte man ehrlich sein, muss man zugeben, dass ihre Striche dünn und blass ausfallen. So ein fettes, sattes Schwarz, wie es Clara Zetkin und Willi Stoph auf der Oberlippe tragen, bringt nur ein Westfilzer zustande, ein dicker Edding. Wer kann so ein Ding besitzen, wer ist groß und hintertrieben genug, um so etwas zu tun? Die kleineren Schüler kommen kaum infrage, Armlänge und Bewusstseinsstand reichen noch nicht für derlei Konterbande. Erfahrungsgemäß wendet die Pubertät vieles zum Schlechten, auch die Länge des Arms und den Stand des Bewusstseins, also muss der Täter in den Reihen der Siebt- bis Zehntklässler dieser unterwanderten Polytechnischen Oberschule zu finden sein. »Halt«, sagt Frau Dornbusch, die Direktorin, als Frau Schreiber den Stuhl vor Clara Zetkin schiebt. »Eine dieser Schmierereien sollten wir als Beweis aufheben.« – »Muss es denn ausgerechnet Clara Zetkin sein?«, fragt Frau Wilke, die Russischlehrerin, und stiftet eine kurze Ratlosigkeit. Ja, kann man denn den einen Genossen über den anderen stellen? Darf man guten Gewissens sagen: Die Zetkin ist uns weniger wert als der Pieck und muss verschandelt bleiben? Soll dem Vorsitzenden des Ministerrats so eine Tyrannenbürste eher zugemutet werden als dem Staatsratsvorsitzenden? Nun ja, es ist doch ein großes und gutes Ganzes, und wenn es der Wahrheitsfindung behilflich ist, darf man den Einzelnen nicht über dieses Ganze stellen. »Zu Beginn der Vierten erwarte ich«, sagt Frau Dornbusch, »alle siebten, achten, neunten und zehnten Klassen vor der Turnhalle«. – »Een fauler Appel kann den ganzen Korb verderben«, sagt Frau Schreiber, worauf Herr Müller sagt: »Keiner ist so faul, dass er nicht wenigstens als abschreckendes Beispiel dienen könnte.«
    Stillschweigend haben die Siebt- bis Zehntklässler einen heftigen Wettstreit im Lungern und Lässigtun vereinbart. Bis hoch zur Stuckdecke ist der Flur vor der Turnhalle mit Hormonen gefüllt. Die Großen kämmen sich oder klauen einander die Kämme, die in den Arschtaschen ihrer Jeans stecken. Worin stecken die? Doch wohl in den Gesäßtaschen ihrer Nietenhosen! Der Mittelscheitel symbolisiert die Zweiteilung des männlichen Gehirns in bescheuert und vollbescheuert sowie den Geschmack der Zeit. Es gibt auch ein paar Popper mit Seitenscheitel, und so gescheiteltes Haar muss sehr oft aus der Stirn geschwungen werden. Mit hochgestelltem Kragen und gezuckertem Haarhelm macht einer auf Shakin’ Stevens. Zahnspangen blitzen, man kaut Kaugummi und biegt sich vor Lachen. Es riecht nach Bohnerwachs und Schulspeisung, die in grünen Kübeln geliefert wird, und die Fabrikarbeiterinnen der Küche haben schon die Deckel abgeschraubt, die ebenso gut einen U-Bootturm versiegeln könnten. Einer aus der Achten tritt zu einer Pausenhofschönheit aus der Neunten und stößt sein Becken dreimal vor, ohne ihren Hintern zu berühren, ohne dass sie etwas merkt.

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