Das halbe Haus: Roman (German Edition)
»Nein.« – »Und unter den Schülern, fällt dir da jemand ein, der so etwas gemacht haben könnte?«, fragt Fräulein Papaioannou. – Jakob zuckt mit den Schultern und möchte am liebsten sagen: Sören Fischer, 10 a. Woher kommt nur diese Bösartigkeit? Stammt die ganz allein aus ihm selbst? – »Kennst du jemanden, der konkret im Besitz von Folienstiften aus dem NSA ist?«, fragt Herr Müller. – »Wenn einer solche Sachen hat, dann Falk Ulmen«, sagt Jakob, den Blick nach draußen auf die Schrebergärten gerichtet. – »Seid ihr nicht befreundet?«, wendet Fräulein Papaioannou ein. – »Hallo Jakob, hallo Falk, tschüs, Jakob, tschüs, Falk«, sagt Jakob. – »Wir wollen hier keine haltlosen Denunziationen lostreten«, sagt Frau Dornbusch. »Ganz geradeaus gefragt: Hast du, Jakob, diese Schmierereien gemacht?« – Plötzlich schnürt ihm irgendwas die Kehle zu, spannt sich über seinen holzigen Adamsapfel, in seinen Schläfen pocht das Blut, beide Wangen glühen, und seine Augen werden feucht. »Nein!«, ruft er und stampft doch tatsächlich mit dem Fuß auf. »Ich bin außerdem Rechtshänder.« – »Warum sagst du das?« – »Na, weil das nur ein Linkshänder hingemalt haben kann.« Mit links nimmt er den Folienstift und verpasst dem Strauß ein Bärtchen. »Eben so«, sagt er mit erstickter Stimme. Für den Maltest haben die Lehrer ein Zeitungsfoto von Franz Josef Strauß, dem bayerischen Ministerpräsidenten, beschafft und eine Polylux-Folie darübergelegt. – »Woher weißt du solche Sachen?«, fragt Frau Dornbusch. – »Ich bin Rechtshänder«, wiederholt er. – »Besitzt du Stifte aus der BRD , Jakob?« – »Nein!« – »Jakob, bist du unserem Land gegenüber positiv eingestellt?«, fragt Frau Dornbusch. – »Ja!«, schluchzt er und darf sich auf die Bank an der Sprossenwand setzen, bis er sich beruhigt hat.
Fräulein Papaioannou macht Notizen. Es wird sowieso nichts Neues dabei herauskommen. Seit dem vierten Schuljahr schreibt sie die immer gleichen Dinge in sein Zeugnis, in die Gesamteinschätzung, wie es heißt. Er sei ein temperamentvoller Schüler. Er sei geistig beweglich. Er finde selbständig richtige Problemlösungen. Er schöpfe seine Reserven nicht aus. Disziplinverstöße erkenne und verurteile er, schließe sich aber zu selten aus. Erfolgreich nehme er an sportlichen Wettkämpfen teil. Das steht Jahr für Jahr in seinem Zeugnis, merci, chérie. »Mal etwas anderes«, sagt Frau Dornbusch und kommt zur Sprossenwand. Verdammt, jetzt passiert’s, denkt er. Jetzt wird sie mich nach meinem Vater fragen. Als Einzige weiß Kerstin Bescheid und hält dicht, ansonsten sagt er auf Nachfragen: »Mein Vater ist auf Montage. In Ceylon, heute heißt das Sri Lanka.« Aber Frau Dornbusch schiebt nur ihr Handgelenk mit der kleinen Seiko-Uhr vor und sagt: »Du hast doch auch so eine Quarzuhr. Weißt du, wie man die einstellt? Meine geht völlig falsch.« – »Wenn Sie mir«, sagt Jakob mit belegter Stimme, »eine Nadel geben, kann ich Ihnen helfen.«
Er unterschreibt, dass er die Sudeleien weder zu verantworten hat noch weiß, wer sie zu verantworten hat. Mit seinem Namenszug verspricht er, bei der Überführung des Täters mitzuhelfen. »Warum hat es denn bei dir so lange gedauert?«, fragt Kerstin. »Und warum hast du so rote Augen? Hast du geweint?« – »Nonsens«, sagt er. Leo interessiert es nicht die Bohne, warum es bei ihm so lange gedauert und ob er vielleicht geweint hat. Schuldig bekennen wird sich der kleine Kolja. Ganz allein habe er die Bärte hingemalt. Ein Junge aus der Achten wird dasselbe behaupten. Der kleine Kolja und zwei Meter dreißig! Er hätte Dr. Müller fragen sollen, wie es Fräulein Eichhorn geht und ob es jetzt konkret ein Junge oder ein Mädchen geworden ist.
Am Ende dieses verregneten und idiotischen April steht ein riesiger Lamellenpilz auf dem Rasen. In Physik ist der Zug abgefahren. Die erste Rasur hinterlässt Blut.
Im Mai hört die Fragerei nicht auf, nur diesmal ist Leo dran. »Wo ist mein Lippenstift«, will Eva wissen, »und wo ist mein Rock?« Soll Leo doch sehen, wie sie zurechtkommt. Sie hat Ausgangssperre. Der Flieder stinkt.
Früher ging es in den Maiferien immer ins Trainingslager. Der frisch geschnittene Rasen vor dem Gutshaus duftete, sag dreimal schnell »getrocknetes Gras«, oder sag einfach: »Heu, Heu, Heu.« Zum Wecken blies der Trainer die Trompete, sie kletterten aus den Dreifachbetten, stiegen hüpfend in ihre
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