Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Glück noch keine Vierzehn.
Die Glockenmänner auf dem Krochhaus erinnern an den Uhrturm von Venedig. Zu ihren Füßen steht OMNIA VINCIT LABOR . Zwei Löwen wenden sich ab von der Zeit. Warum heißt es nicht AMOR , hat Eva gefragt, als sie neu in der Stadt war: OMNIA VINCIT AMOR .
Ein Glücksstreben kann ein anderes Glücksstreben zunichtemachen. Ein Freiheitswunsch einen anderen.
Mit der zu erwartenden Aburteilung wegen meiner »Verbrechen gegen die DDR « ziehe ich endgültig einen Schlußstrich unter dieses Land, das ich einst als meine Heimat bezeichnet habe. Diese Heimat ist mir zum Sinnbild von Inhumanität und Verlogenheit geworden. Jegliche Grundlage für eine weitere Existenz in der DDR ist zerstört. Ich verlange die unverzügliche Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR ! Damit beende ich meinen Lebenslauf für die DDR , Frank Kohlhaas.
Am 31. August 1981 versuchte der Beschuldigte Frank Friedrich, die DDR auf ungesetzlichem Wege zu verlassen. Gemeinsam mit seinem Sohn, dem damals elfjährigen Jakob Friedrich, begab sich der Beschuldigte im Raum Dingleben, Bezirk Erfurt an die Staatsgrenze, um einen Grenzdurchbruch nach der BRD durchzuführen und nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Angehörige der Grenztruppen der DDR fanden eindeutige Beweise für den Vorgang: Einerseits wurden Schuheindruckspuren in den Schuhgrößen der Genannten festgestellt, weiterhin wurden sichergestellt ein Dreifarbkugelschreiber der Marke Rugli aus dem Besitz des Beschuldigten sowie das Blatt 5/6 des Neuen Deutschland vom 27. 07. 81. Besagte Seiten des Organs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands tragen Spuren von Darmausscheidungen, die laut Laborgutachten zweifelsfrei vom Beschuldigten stammen.
Am letzten Tag der großen Ferien kann man sich noch einmal verkriechen. Man kann in den Tag träumen oder durch die Gärten streunen. Im Birnbaum kann man sitzen und auf alles hinabschauen. Es sei denn, man ist jemand anders.
Der Barkas mit den spindgroßen Zellen bringt dich und vier andere zum Hauptbahnhof. Die Stadt ist finster. Wie Erstklässer, die eine Nachtwanderung machen, rottet ihr euch auf dem Parkplatz zusammen, umstellt von euren Betreuern. Es sind kaum Menschen auf den Straßen, westlich schimmert matt die Blechbüchse, östlich rotiert das Doppel-M auf dem Hochhaus. Es ist eine laue Nacht. In solchen Nächten hast du Serenaden gesungen, bist nackt in den Kiesgruben geschwommen, hast bei Kerzenschein mit deinen Freunden geklönt oder schöne Frauen geküsst. Im Gänsemarsch geht ihr los, zwei rauchende Taxifahrer glotzen euch an. Pfoten auf’n Schwanz runter, sagt einer eurer Betreuer. Ihr tragt Zivil und Handschellen. Deine Hose rutscht, du hast wirklich keine Zweiundfünfzig mehr. Dein alter Anorak riecht nach einem Deo, das dir fremd vorkommt. Die Märzunruhe, die Aprilangst, die Maieifersucht, die Junitaubheit, die Juliverrücktheit und die Augusterinnerungen – all das ist weg. Die Liebe, das Geliebtwerden. Du denkst nur bis zur Grenze des Tages, du denkst nur an dich. Es sind deine Schritte, die du hörst.
Deine Scham ist eine Zeugin der Anklage. Die Strafe kann gar nicht hoch genug ausfallen für einen wie dich. Du bist schuldig. Nicht wegen der Grenzsache oder der Zettelaktion, sondern weil du deine Frau, deinen Sohn und deine Mutter da mit hineingezogen hast. Jedes Urteil wirst du demütig annehmen, im Namen des Volkes.
In der Strafsache gegen Frank Friedrich und Rüdiger Pfeiffer wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung und anderem hat der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Leipzig in der Hauptverhandlung vom 18. August 1983 für Recht erkannt: Der Angeklagte Friedrich wird wegen mehrfacher landesverräterischer Nachrichtenübermittlung in Tateinheit mit gemeinschaftlich begangener staatsfeindlicher Hetze und versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Sechs durch zwei macht drei, drei plus dreizehn macht sechzehn. Bleiben zwei Jahre, in denen du deinem Sohn beim Wachsen zusehen kannst, das ist lind. Eva hat ihre große Sonnenbrille aufgesetzt, Pfeiffer stützt sich auf den Tisch, seine Schultern zucken, aber für ihn sind es nur zweieinhalb Jahre durch zwei, seine Frau schnäuzt sich. Zur Urteilsbegründung dürft ihr euch alle wieder setzen.
Die Gesellschaftsgefährlichkeit des Handelns der beiden Angeklagten, vor allem des Friedrich, besteht in dessen Intensität und Unversöhnlichkeit. Mit ihren
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