Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Er sagt »Puffreis«, und wieder biegen sich alle vor Lachen. Die Mädchen haben Pudelfrisuren, sie klimpern mit den Wimpern, »biste in den Farbkasten gefallen, Susanne«. Jede Zweite hat sich ein Tuch mit eingewirktem Lametta um den Hals gewunden. Die Mädchen sind immer sehr beleidigt und verziehn de Gusche. Aber die Jeans, pardon: Nietenhosen sind so eng, dass die Hintern platzten, wenn du hineinstechen würdest. Beleidigt und sexy tun, das soll mal einer verstehen. Wie die Schießhunde passen Frau Schreiber und Herr Kretzschmann auf, dass sich niemand auf dem Klo die Hände wäscht. Filzstiftspuren wären Indizien. Falk Ulmen übt, möglichst laut mit der Zunge zu schnalzen, wofür ihm ein Großer mit schütterem Oberlippenbärtchen einen Klaps auf den Hinterkopf gibt: »Nickneger.« – »Ey, du Kunde«, ruft Falk und bekommt als Zugabe eine Kopfnuss, worauf Herr Kretzschmann noch einmal die Nüsse gerecht verteilt und dann pfeifend, die Hände hinterm Rücken verschränkt, den Flur entlangflaniert, bis zu dessen zwielichtigem Ende, wo Leo an der Wand lehnt und die Zipfel ihres Palästinensertuchs und Sören Fischer um den Finger wickelt. »Frolleinchen, Schuh von der Wand, oder sind wir ein Klapperstorch.« Sören Fischer aus der 10 a besteht aus schulterlangem Haar, Nietengürtel und Jeansjacke mit vier Ansteckern: Peace-Dreizack, No Future!-Slogan, Udo Lindenberg und Rosa Luxemburg. Aus seinem T-Shirt hängt ein Kreuz. Er gehört der Jungen Gemeinde an, spielt Schlagzeug und kann die nölende Stimme von Lindenberg täuschend echt nachahmen (»Aber sonst ist heute wieder alles klar auf der Andre-a Do-ri-a!«). Weil er schon sechzehn ist, fährt er eine ETZ 150.
Ein einzelner Tisch steht in der nach Schweiß, Leder, Fernwärme und Sockenmuff riechenden Turnhalle. Dahinter thront Frau Dornbusch, ihr zur Seite sitzen Dr. Müller und Fräulein Papaioannou. In der Nische stehen die Kästen, die Böcke und das Sprungpferd beisammen, der Schwebebalken ist immer noch so lang und dünn, der Barren ist neidisch auf den Stufenbarren, wegen der Stufe und Maxi Gnauck. Wie im Kindergarten nach dem Waschen muss man zuerst die Hände vorzeigen und wenden. Als Vorstrafenregister liegt das Klassenbuch vor Dr. Müller aufgeschlagen, Fräulein Papaioannou ist Schriftführerin. Zwei wackere sozialistische Folienstifte kreuzen sich auf dem dicken Gesicht vom Strauß. »Was denkst du, Jakob«, fragt Frau Dornbusch, »warum macht wohl jemand so etwas?« – »Das kann nur ein Revanchist und Feind des Sozialismus gewesen sein«, antwortet Jakob eine Spur zu wohlfeil. – »Man muss es ja nicht gleich so drastisch formulieren«, sagt Frau Dornbusch. »Es kann auch jemand gewesen sein, der nicht so viel nachgedacht hat und nur einen dummen Streich spielen wollte.« – »Kann natürlich auch sein.« – »Ich finde das schon sehr richtig gesagt«, meint Dr. Müller, der FDJ -Sekretär der Schule. »Kennst du konkret einen Feind des Sozialismus und einen Revanchisten, Jakob?« – Der Angesprochene überlegt kurz und antwortet dann, weil man sich ja kooperativ zeigen muss: »Pfeiffer.« – »In welche Klasse geht dieser Pfeiffer?«, fragt Frau Dornbusch. – »Wir haben keinen Pfeiffer an unserer Schule«, sagt das hübsche Fräulein Papaioannou, Jakobs Klassenlehrerin. – »Das ist ein Bekannter«, erklärt er und sagt dann zum Glück doch nicht: von meinem Vater. Bekannter, Verwandter, Freund – er muss höllisch aufpassen, er darf hier keinen Fehler machen und muss trotzdem kooperieren. Eva hat es ihm eingebläut: Wir stehen unter Beobachtung, der kleinste Fehltritt kann uns zum Verhängnis werden. – »Aber kennst du konkret so jemanden an unserer Schule?«, fragt Dr. Müller. »Überleg genau.« – »Also ich weiß, dass Herr Kretzschmann in der Hitlerarmee war«, antwortet er und tut so, als gebe er dies ungern preis. »Er hat in Griechenland gekämpft, da hat die Sonne seine Haare ganz weiß gemacht, er hat es selbst einmal konkret vor der Klasse erzählt. Jetzt sind sie es ja von alleine und andauernd. Ich meine, weiß. Die Haare.« – »Du willst doch nicht behaupten, dass ein altgedienter Genosse wie der Kollege Kretzschmann diese Schweinerei veranstaltet hat?«, fährt ihn Dr. Müller an. Traurig betrachtet ihn Clara Zetkin. Sie sieht aus wie eine Omi aus dem Altersheim, die einem bösen Pfleger wehrlos ausgeliefert war. – »Nein, das meinst du doch nicht«, sagt Frau Dornbusch. –
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