Das halbe Haus: Roman (German Edition)
blondem Holz. Während der Fahrt von Gießen nach Gemünden hat er einen mit gewachsten BMW -Karossen beladenen Sattelschlepper gesehen, chromglänzende Futtersilos und kreidefarbene Knauf-Röhren. Die Kühltürme der Kraftwerke, das sind die Pyramiden des Abendlands, und die zu Schleifen gebundenen Autobahnen sind die Seidenstraßen der Neuen Welt. Er wirft die Aluminiumchips und die kleinen Scheine aus dem Fenster. Der Wind reißt sein Erbe mit sich: Thomas Müntzer, Clara Zetkin und den alten Goethe, der für alles herhalten muss. Nun hat er die Hände frei und wird hineinspucken, um das Bruttosozialprodukt zu steigern. Hier sind die Türen und die Tore wirklich hoch und weit, und ein lässiger Spediteur hält alle Wagen in Bewegung, als seien es Matchbox-Autos. Diesen Spediteur denkt er sich als Marlboro-Mann. Auch er wird sich neu einkleiden, in Zwirn, Jeans und Leder. Vielleicht wird er sich einen Cowboyhut kaufen, vielleicht einen Herrenhut. Ein Jahr und zwei Kleidergrößen hat er verloren, ansonsten ist er genauso groß wie vor dem Knast und vor der Frau. Es war fast nichts. Er wird das bayerische und das allgemeine Begrüßungsgeld in Kleidung und Ratgeber anlegen. Ein Selfmademan wird er sein. Und wenn er Hilfe braucht, wird er sich an Viktor wenden, der ein Vermögen mit Immobilien gemacht hat. Dieses Kaufmannsgen muss doch auch in ihm stecken. Und der Junge wird aufs Gymnasium gehen, dann wird er studieren, womöglich ein Jahr in Amerika verbringen. Nach Brasilien und Italien werden sie reisen, mit Motorbremse wird er die Serpentinen runterfahren, am besten in einem Benz, aber keinem goldenen. Im Auffanglager wurde er befragt und vermessen. Das Humpeln war weg, er bekam eine Salbe für die Füße. Er hat sich eine marmorierte Almosenhose und ein gelbes Knitterhemd gegriffen, die Wintersachen aus seinem Winterleben hat er in den Koffer aus Papier gepackt. Er weiß noch, dass es sich klamm darin gelebt hat, er wird sie wegwerfen wie das Luschengeld. Aber an den Knast erinnert er sich lebhaft, einmal zu jeder Tages- und einmal zu jeder Nachtstunde. »Selbst wenn du nur sechs Jahre bekommen hast und vielleicht nach zweien freigekauft wirst, sitzt auch du lebenslänglich ein, Mittwoch.« Das sind die Basstöne, die werden bleiben. Darüber legt sich die leichte Muse: Sommerzeit, und das Leben ist easy. Fische springen, und der Kattun steht hoch. Alles ist eine einzige lange Reise. Im Orange Blossom Special, im Sonderzug nach Pankow, im Midnight Special, im Blütenzug, im Grotewohl-Express. Alles ist ein endloser Nachmittag on the road, on the iron way. Er sitzt auf einem Koffer, sitzt unter einem vergitterten Fenster auf einem Klappsitz, hängt wie ein Hobo im Fahrgestell und steigt in Gesundbrunnen aus. Er schaut auf das saftige Grün, die frischen Laken der Felder, den Parallelweg der blitzenden Messer, den Graphitfluss der Straße und den Strich der Leitplanken, der sich ewig durch Westdeutschland zieht. In Chemnitz, was sie nicht sagen dürfen, steht ein Deutz-Reisebus bereit. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! Der Fahrer ist ein schnauzbärtiger Bayer. Vorm Blendschutz der Frontscheibe baumeln Wimpel aus fernen Ländern. Als der Bus vollbesetzt ist, tritt ihr aller Anwalt in weißem Hemd und edlem Schlips ein. »Meine Herren«, sagt er, auf einmal sind sie wieder Herren. »Sie sind sich bewusst, dass jeder einzelne Platz hier in diesem Bus hart umkämpft war. Ich habe das Menschenmögliche getan, damit Sie in diesen Polstern sitzen dürfen. Mit einem gewissen Recht kann ich Sie daher bitten, auf dem Weg in Richtung BRD keine abfälligen Bemerkungen über die DDR zu machen.« Er ist ein geübter Redner. Wie man munkelt, hält er seine kleine Ansprache hundert Mal im Jahr, sie ist Millionen wert. Er steigt in seinen goldenen Benz, Helios mit Hornbrille und Betonfrisur, und begleitet den Bus bis zur Grenze. In Wartha wird zwei Kerlen plötzlich übel, sie springen aus dem Bus und verschwinden im Wachgebäude. Nur Stasi-Schweinen wird so dicht vorm Westen plötzlich übel. Der Große Wagenlenker steigt noch mal zu. »Meine Herren«, spricht er. »Sie verlassen nun das Staatsgebiet der DDR . In der Bundesrepublik werden sich Vertreter der dortigen Organe und Presse an Sie wenden. Man wird versuchen, Informationen von Ihnen zu erlangen. Bedenken Sie: Alles, was Sie gegen die DDR sagen, schadet Ihren Kameraden, die noch inhaftiert sind. Durch negative Aussagen verlängern Sie deren Leidenszeit. Meine Herren, ich
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