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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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wünsche Ihnen eine angenehme Weiterreise.« Auf den letzten Metern halten alle die Luft an, damit die Sache nicht noch platzt. Als die Hoheitszeichen der Bundesrepublik auftauchen, atmen sie aus und schweben in das Land ihrer Träume, die künftig leider vom Knast beherrscht sein werden. Von der Abschlussprüfung träumste auch erst Jahre später. Der Busfahrer sagt ins Mikrofon: »Jetzt könnts ihr erzählen, was ihr wollts.« Aber niemand hat etwas zu erzählen. Das Staunen macht sie ganz dumm. Als sich rechts eine Tankstelle zeigt, springen sie auf und beugen sich zum Fenster. »Wollts ihr den Bus umkippen!«, schnauzt der Fahrer nach hinten und sagt, dass sie lieber »für einen Fuchzger West« Dosenbier bei ihm kaufen sollen. Da bricht der Jubel los. Nach drei Schluck ist er betrunken, und die erste Zigarette auf einer Raststätte kann er auch nur zu einem Viertel rauchen. Ein Schwindel treibt ihm das Bier und das Graubrot vom Morgen aus. Seine Kameraden pissen in die Büsche. Sie alle tragen verschossene Kleider von der Caritas. Sechs Holländer mit Badelatschen und Sonnenbrand beäugen sie. Im Knast hat jeder einen blaugrünen Anzug mit Oranje-Warnstreifen auf Rücken, Ärmeln und Beinen getragen. Als er in seinen Verwahrraum gestoßen wird, sieht er zuerst ein breites blaugrünes Kreuz mit solch einem Leuchtstreifen. Unten im Freihof drehen die Schwerverbrecher und die paar Politischen ihre Runden. Nur einer ist auf Zelle geblieben, der zwei Meter große Mann mit dem breiten Kreuz. »Am Anfang glauben alle, es ist das Ende«, sagt er und zeigt sein freundliches Gesicht. »Du hast den Stasi-Knast überstanden und denkst, tiefer geht’s nicht, aber dann kommt das hier. Stimmt’s, Abdullah?« – »Will ich wohl meinen«, sagt der Schließer mit dem dunklen Teint und den fiebrigen Augen und verriegelt die Zelle, in der zehn dreistöckige Betten stehen. »Und weißt du was«, sagt der Hüne, »der erste Eindruck täuscht nie. Mein erster Eindruck von dir ist: Mittwoch. Ab heute heißt du Mittwoch. Sollen die Politischen ihren richtigen Namen behalten, bloß weil sie am ehesten wieder rauskommen? Mich nennt man den Kleinen Gatsby. Horch, Mittwoch: Hier drin brauchst du ein kleines Mundwerk, gute Nerven und einen starken Beschützer, der dir sagt, wo der Hase lang läuft. Komm mal ran hier ans Blumenfenster, im Moment läuft der Hase da unten.« In dem quadratischen Hof tragen zwei Sträflingsmannschaften ein Staffelrennen aus. Alle johlen, alle haben das gleiche Trikot an: Blaugrün mit Orange. In vergitterten Erkern stehen Wächter mit MP s, fünf Meter über dem Grund. Weiße Nummern laufen die ziegelrote Wand hinauf – 19, 70, 123 –, immer gestoppt von einem Fensterloch mit schwedischen Gardinen. »Da siehst du den ganzen Abschaum unseres Landes«, erklärt der Kleine Gatsby. »Das sind die Gefallenen, über die keiner spricht. Offiziell gibt’s die gar nicht. Der da zum Beispiel, der so schön schnell rennt, ist ein Kinderficker von der Akademie. Der andere Kinderficker heißt Papst, dreimal darfst du seinen Beruf raten. Apropos dreimal: Der da ist ein dreifacher Mörder mit dreimal lebenslänglich. Die beiden mit dem Über- und dem Unterbiss sind die Doppelmörder Hase und Wolf, der Tattergreis ganz hinten ist der Henker von Charkow, der hat schon fünfundvierzig eine Dauerkarte gelöst. Die Tucke mit den tätowierten Augenbrauen ist ein Menschenfresser, auch lebenslänglich, und der elegante Häuptling Silberlocke ist ein Heiratsschwindler mit verdammt schlechten Manieren, für die er acht Jahre gekriegt hat. Der fette Glatzkopf mit dem Hakenkreuz auf der Platte hat von Kopf bis Fuß was gegen den Sozialismus. Auf seinen Schwanz ist Görings Marschallstab tätowiert, ungelogen, deswegen heißt er auch der Marschall. Sitzt nur vier Jahre. Deine politischen Kumpels, den Professor, den Doktor Salat, den Dirigenten, die erkennst du an der Angst in ihren Augen. Riesenfehler, horch. Wenn die Hunde Angst wittern, hetzen sie los.« Unten drückt sich ein großer Dünner an die Backsteinmauer. Die Ärmel seines Anzugs sind zu kurz. Er läuft nicht mit, wird angerempelt, dreht sich weg, wird noch einmal angerempelt. Tatsächlich Hundegebell. Seine Augen springen in alle Himmelsrichtungen. »Und wie heißt der da?«, fragst du. – »Der heißt Wecker, weil er nervt und nicht richtig tickt.« – »Im richtigen Leben war das wirklich ein Uhrmacher.« – »Horch, Mittwoch, das richtige Leben ist futsch.

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