Das halbe Haus: Roman (German Edition)
und sich festlich an. Der Vater bindet sich sogar einen Schlips um, und Jakob hängt dem Kater ein rotes Band mit Glöckchen um. Bei Kerzenschein essen sie in der Küche. Der Vater sagt, heftig kauend und sich am Hals kratzend: »Das sind die besten Fönrouladen, die ich je gegessen habe.« Sie verschlucken sich, so sehr müssen sie lachen. Der Vater trinkt Mixerlis mit Eiswürfeln, Jakob trinkt Fassbrause. Auf dem Fensterbrett stehen zwei Flaschen Wodka und vier Flaschen Club-Cola. Eine Flasche Cola und eine Flasche Wodka stehen auf dem Tisch. Nach dem Essen sucht der Vater die Platte mit dem wimmernden Kinderchor heraus und schnippt gegen das Glöckchen am Hals des Katers. Sie gehen nach nebenan und hocken sich vor den Gabenbaum.
Sie fangen mit dem Westpaket an. Die Großmutter wohnt nun in der Kaiserstraße in Bad Itz in der Bundesrepublik Deutschland, bei L. Kuhn, so steht es im Absender. Der Vater schneidet die Bindfäden auf und klappt den Pappdeckel hoch. Ein Briefumschlag und ein Packzettel liegen zuoberst. Das Paket verströmt ein unglaubliches Aroma: Kamille im Sommerwind, Tabak, Karamell, Minze und die filzgelbe Trockenheit von Tennisbällen. Sie schlagen das grün-rote Schmuckpapier zurück, entfernen die Knallfolie, und dann kommen Schlittschuhe zum Vorschein. Jakob probiert sie sofort an. In jedem Schuh der Westgröße 37 stößt er auf ein kleines Säckchen, das irgendein Granulat enthält. Salz? Wieso Salz?
Die Schlittschuhe sind schwarz und blau und lassen ein wenig Platz vor den Zehen. Die Kufen schimmern und haben einen perfekten Hohlschliff. Der Vater fördert ein Päckchen Zigarillos (Dannemann), eine Dose Kokosmilch und eine Schachtel After Eight zutage. Darunter findet er ein Bob-Dylan-Songbook und ein Mundharmonikagestell. Er sagt einfach nur: »Uff.« Für den Kater gibt es eine Tüte mit Trockenfutter, die Knabberstücke haben die Form von Katzenköpfen. Das ergibt doch keinen Sinn, denkt Jakob, sie müssten mausförmig sein.
Der Vater hält den wimmernden Kinderchor nicht mehr aus und sucht Johnny Cash heraus, At Folsom Prison. Doch auch der fällt ihm nach ein paar Takten auf die Nerven. Er geht in die Küche und mixt sich ein neues Getränk. In der Zwischenzeit studiert Jakob den Packzettel der Großmutter: Halbmonde auf den Us, Geschenksendung, keine Handelsware. Alle Gegenstände sind angekommen, das Paket ist anscheinend nicht geöffnet worden. Um es ordentlich zu falten, zieht er das grün-rote Schmuckpapier aus dem leeren Karton. Dabei klatscht ihm ein schweres Heft in den Schoß, das am Grund des Pakets zwischen zwei Lagen Papier gedümpelt hat: PLAYBOY . ALLES WAS MÄNNERN SPASS MACHT . Auf der Frontseite des Magazins, das 7 DM gekostet hat und nicht auf dem Packzettel steht, ist der Unterleib einer Frau zu sehen. Ein Fächer, von einer Frauenhand mit rot lackierten Fingernägeln gehalten, verdeckt das entscheidende Gebiet zwischen Bauchnabel und Knien. Jakob blättert hastig das Heft durch und findet keine einzige Nackte. Er blättert noch mal, keine Nackte. Er bleibt auf einer Witzseite hängen. Welcher Bär springt am höchsten? Der von Ulrike Meyfarth. Er kapiert nicht, was daran witzig sein soll. Der Vater kommt zurück und sieht ihn fragend an. »Das war auch noch drin«, sagt Jakob und reicht ihm das Heft. Seine Ohren schämen sich. Mit glatter Stirn legt der Vater das Heft dahin, wo immer alles Verbotene deponiert wird: oben auf die Anrichte.
Zurück im Wohnzimmer, setzt er sich neben Jakob, der vor dem Baum kniet, noch immer die sperrigen Schlittschuhe an den Füßen. Abwechselnd lesen sie Großmutters Brief:
Bad Itz, d. 21. Dez. 1981
Lieber Frank, mein lieber Jakob!
Nun bin ich erst eine Woche hier und weiß schon gar nicht, wo ich anfangen soll mit Erzählen. Vieles läßt sich mit Worten überhaupt nicht fassen. Alles ist neu für mich. Kuhns Liesl hat mich fürs Erste bei sich aufgenommen. Sie hat eine große schöne Wohnung direkt am Kurpark. Das Heilwasser schmeckt gar nicht so schweflig, wie man immer sagt. Wir waren auch schon kegeln und spielen hin und wieder Karten. Aber viel Zeit ist nicht. Liesls Bekannter fährt mich zu den Ämtern, jeden Tag muß ich auf die Behörden. Das ist vielleicht eine Warterei! Wiewohl die Beamten hier kein Vergleich zu den Unseren sind, das kann ich Euch sagen. Trotzdem habe ich schon nach Bonn geschrieben, Frank, wegen Deiner Sache. Nach den Feiertagen werde ich zur Caritas und zum Superintendenten gehen
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