Das halbe Haus: Roman (German Edition)
nicht so mickrig wirkt, nicht so spack. Er kann sich noch so viel Mühe damit geben, die Tanne sieht Jahr für Jahr aus, als ob irgendetwas nicht mit ihr stimmt: zweierlei Grün von unterschiedlichem Wuchs. Ihm gefällt’s. Er schnitzt das Stammende zurecht, sodass es in den kleinen gusseisernen Ständer passt, der nicht verhindert, dass der Baum kippelt und taumelt.
Unterdessen steht Jakob in der Küche und grübelt. Auf dem Küchentisch liegen alle Zutaten für das Weihnachtsessen. Er hat sie aus dem Kühlschrank geholt und auf dem Igelittuch ausgebreitet. Weil sie nur noch zu zweit sind, will er sich nützlich machen, obwohl er noch nie eine warme Mahlzeit zubereitet hat. Er geht in Vaters Zimmer und findet im Bücherregal ein Kochbuch für Frischvermählte, erschienen im Verlag für die Frau. Als er es aufschlägt, fallen ihm ein Libellenflügel und ein getrocknetes Kleeblatt entgegen. Auf der Vorsatzseite steht der Name seiner Mutter. Er liest, dass es verschiedene Arten der Fleischzubereitung gibt: Kochen, Braten, Schmoren und Garen. Rouladen brät man erst an, dann schmort man sie. Im Vorwort steht, dass jede Familie ihre eigene Koch- und Geschmackswelt entwickelt, in der sie sich wohlfühlt. Alle Rezepte sind für vier Personen ausgelegt, sie sind zu zweit.
Fleisch hat der Vater für eine Großfamilie eingekauft. Jakob bestreicht die sechs breiten roten Fetzen mit Bautz’ner Senf. Darüber würfelt er Speck-, Gurken- und Zwiebelstücke und rollt den ersten mehr schlecht als recht auf. Er sticht fünf Spieße hinein und formt die nächste Rolle. Jetzt geht es schon besser, es quillt nicht mehr so viel von der Einlage heraus. Als er die letzte Roulade gebaut hat, fällt ihm siedend heiß ein, dass er vergessen hat, das Fleisch beidseitig zu pfeffern und zu salzen, obwohl es klipp und klar im Kochbuch für Frischvermählte steht. Er zieht die Spieße aus dem Fleisch, rollt es auf, pult die senfverschmierten Speck-, Zwiebel- und Gurkenwürfel heraus und wäscht jedes der marinierten Stücke unter fließendem Wasser ab. Um die feucht glänzenden Lappen abzutrocknen, holt er Klopapier, nicht ohne den Kater zu ermahnen, die Pfoten von dem Essen zu lassen. Mit einem großen grauen Klopapierballen, der sich nassrot färbt, tupft er das Fleisch ab. Nun sind die Rouladen wieder trocken, aber bei genauem Hinsehen erkennt er, dass Papierfetzchen daran kleben. Es hilft nichts, er muss sie ein zweites Mal waschen. Erneut hält er sie unter den Wasserstrahl, bis das Klopapier abgespült ist, und legt sie zurück auf das Igelittuch, auf dem sich Pfützen aus Blut, Wasser und Senf gebildet haben. Er denkt nach. Dann hat er einen rettenden Einfall. Er sieht den Kater streng an und holt den Fön aus dem Wäsche- und Kosmetikschrank.
Es dauert, bis eine Roulade im warmen Luftstrom getrocknet ist. Außerdem verändert sich die Farbe des Fleisches, es wird grau. Zu allem Übel ist der Vater mit der Tanne fertig. Den toupierten Baum in der Hand, steht er in der Tür und fragt, ob er wohl seinen Augen trauen könne, ob sein Sohn meschugge sei, plemplem. Jakob zuckt mit den Schultern. Der Vater stößt den Baum auf, sodass es Nadeln regnet. Er zieht den Fönstecker aus der Dose, wäscht seine Hände und knöpft sich die Rouladen vor. »Schon in Ordnung«, sagt er, als das Fleisch in Polinas Bräter schmort, beidseitig gepfeffert und gesalzen. Oben auf der Anrichte liegt Großmutters Paket.
Sie gehen in den Keller und holen Kisten und Kartons herauf. Der Baum braucht Engelshaar und Lametta, Wunderkerzen und Lichterkette, Kugeln und Strohsterne. Wie jedes Jahr kommt die Bescherung vor der Bescherung: Die Lichterkette wird eingesteckt und – geht nicht. Das ist das Zuverlässigste überhaupt, zuverlässiger noch als der ausbleibende Schnee, die brennende Kerze am Grab oder die Traurigkeit an Heiligabend: Die Kette wird klappernd entknotet, mühsam um den Baum gewunden, die Lämpchen werden in die Zweige gesteckt und das Kabelende in die Schukodose – nichts. Jakob und der Vater suchen das eine vermaledeite Lämpchen, Jakob sucht unten, der Vater oben. Jakob findet es schließlich, da ist sein Rücken längst genadelt, und sein Hals juckt vom Engelshaar. Nachdem das Lämpchen ausgetauscht ist, schimmert endlich der Baum: Glühwürmchen in Zuckerwatte. Wie jedes Jahr.
Nun legen sie ihre Geschenke davor. Der Vater holt das Westpaket von der Anrichte und setzt es neben die anderen Gaben. Dann ziehen sie die Tür zum Wohnzimmer zu
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