Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Mädchen erröten, wenn sie furzen, wie kreuzdumm sein Vater ist, was im Resonanzraum von dessen Gitarre steht. Und so weiter und so fort. Er würde sein eigenes Lexikon anlegen, nicht von Anton bis Zylinder, sondern von August bis Zorn. Er würde die Worte abwiegen. Ob zwei einen Satz oder eine Seite lang durch einen Wald gehen, wäre ihm nicht egal. Er würde seine Großmutter und seinen Vater mit Gedanken und Gefühlen füllen, wie man eine Gans stopft. Weil die entweder nichts sagen oder es so sagen, dass es Kinder nicht kapieren. Oder sie lügen schlichtweg oder haben alles vergessen mit den Jahren. Dass seine Mutter immer kalte Füße hatte und deshalb jede Nacht in Strümpfen schlief – das ist die einzige brauchbare Information, die ihm sein Vater jemals über sie gegeben hat. Alles andere, dass sie einen guten Geschmack gehabt habe, nützt ihm gar nichts. Also würde er auch seiner Mutter Worte geben. Es wären die ihren und die seinen, er würde sie und sich hören. Er würde all das hinschreiben, und nichts und niemand würde ihm etwas anhaben können. Und irgendwann würde er es ihnen zeigen, denen, die alles vorsagen oder nachsagen oder falsch sagen oder gar nicht sagen, seiner Großmutter und seinem Vater und all den anderen auch, verdammte Scheiße.
Der Vater hat Sodbrennen. Er stößt immer wieder auf und verzieht das Gesicht. Vor einem Haus in der Südvorstadt bremst er. Er schaltet den Motor aus und starrt auf die Fassade des Mietshauses, vor dem sie parken. Dessen Fenster sind erleuchtet, in zweien brennt violettes Licht. Sterne kleben in den Fenstern, und Watteschnee baumelt an Zwirnsfäden. »Was soll ich nur mit Almut machen«, sagt der Vater und zündet sich eine Zigarette an. »Soll ich zu ihr raufgehen?«
Jakob könnte jetzt fragen, ob er seinen Ohren traue und ob sein Vater meschugge oder plemplem sei. Stattdessen überlegt er und sagt dann: »Na ja, sie mag den kleinen Prinzen.«
Der Vater raucht schweigend zu Ende, nickt und schnippt die Glut aus dem Fenster. »Hast ja recht«, sagt er und startet den Wagen.
Er fährt zum Schlachtendenkmal. In dem großen Becken am Fuß des Monuments wollen Jakobs Schlittschuhe ausprobiert werden. Sie gehen auf den steinernen Koloss zu, der vom Erzengel Michael mit dem Fackelschwert bewacht wird. Irgendwo im Innern ruhen die Knochen von Tausenden. Das Denkmal ist beleuchtet, aber es hat den Anschein, als würde das Licht daran verzagen.
Auf dem unteren Ring gehen sie um das Bassin, in dessen Wasser sich der Turm hoch wie breit spiegeln soll, nur jetzt ist der Spiegel vereist. Der Vater stützt Jakob. Es riecht nach feuchter Erde. Schnee fällt. Dicke Flocken frischen Schnees stürzen aus der Schwärze.
Das Kleeblatt aus dem Kochbuch seiner Mutter war natürlich vierblättrig.
★
»Man sieht nur mit dem Herzen gut«, sagt Almut und streicht ihm über den Kopf. Fast möchte er sich ihrer Hand entgegenstrecken, auch wenn die Fingernägel lackiert sind, fast ihren Trost annehmen. Es ist nicht mehr viel übrig von den Feiertagen. Ein paar Nüsse, Datteln und eben die Ohrfeigen. »Schallend« wäre das richtige Wort, wenn es ihn nicht umgerissen hätte nach der zweiten, er kein Nasenbluten und keine Beule davongetragen hätte. So ist »schallend« das falsche Wort.
»Du hast deinen Vater zu Tode erschreckt«, sagt Almut. Ihr Parfum ist wie ein Theatervorhang. »Er ist vor Sorge schier wahnsinnig geworden. Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Er ist viel zu gekränkt, um irgendetwas sagen zu können. Die Wut und die Scham schnüren ihm die Kehle zu, spannen sich über den holzigen Adamsapfel, in den Schläfen pocht das Blut, beide Wangen glühen, er hat Eisen im Mund, die Nase ist verstopft. Er ist sich sicher, dass ihn sowieso niemand versteht, ein bisschen Trost wäre schon viel, denkt er, und dann schiebt sich ein anderer Gedanke dazwischen: Was soll das überhaupt heißen? Nur mit dem Herzen sieht man gut? Sagt das der pisskleine Prinz? Was hat der Satz hier zu suchen? Und was hast du eigentlich hier zu suchen?
Am letzten Tag des Jahres ist sie eingezogen und hat erst mal klar Schiff gemacht. Einfach so, ohne dass der Vater ihn gewarnt hätte. Noch bevor sie ihre Koffer auspackte, hat sie schweigend Geschirr gespült, die leeren Flaschen in die Garage geschafft, den Nadelbaum auf den Bürgersteig gestellt – grün waren nur noch die falschen Zweige –, sie hat die Stube gesaugt, mal so richtig durchgelüftet und die Wasserringe vom
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