Das halbe Haus: Roman (German Edition)
irgendwas. Jakob steht auf und geht in den Flur. »Was?«
Der Vater antwortet, aber Jakob versteht ihn nicht. »Ist gut jetzt!«, ruft er einfach nach oben.
Der Vater ruft zurück.
Jakob stakst ins Wohnzimmer, um zu sehen, wie es mit dem Teufel und Jesus weitergeht. Wenn Jesus wirklich der Friedensmacher und Allesvergeber ist, dann müsste er auch dem Gehörnten die Hand auflegen, genau genommen dürfte er da keine Vorbehalte haben. Er ist sich nicht sicher, in seinem Lexikon gibt es nur sieben Einträge unter J, Jugendweihe, Judo und Jugoslawien, aber keinen Jesus. Er könnte Kerstin fragen, deren Vater Pfarrer ist. Aber Kerstin fragen ist wie Senfeier essen.
Er setzt sich vor den Ofen und sieht zu, wie Jesus von Judas verraten wird. Der Verräter bekommt ein Beutelchen mit Münzen. Froh ist er nicht. Jakob, Jesus, Judas: alles mit J. Plötzlich fällt ihm auf, dass der Vater noch nicht zurück ist. Er ist noch auf dem Dach. Jakob rappelt sich hoch und ruft, doch der Vater reagiert nicht. So schnell er kann, läuft Jakob die Treppe hinauf. Kälte schlägt ihm entgegen, die Dachluke steht offen. »Papi!«, ruft er in die Nacht, »Papi!« Vielleicht ist der Vater vom Dach geflogen, wie ein Ziegel oder ein Vogel. Jakob lehnt sich aus der Luke und sieht das Glas und den unbeweglichen Fuß des Vaters. Obwohl er Höhenangst hat, beugt er sich weiter aus dem Fensterchen und stößt den Vater an. Dabei fährt das Glas wie ein Skispringer über die Schräge und segelt nach unten. Jetzt regt sich der Fuß.
»Papi«, sagt Jakob, »komm wieder runter.«
Mit schwerer Zunge sagt der Vater: »Ich bin nur eingeschlafen, verdammte Scheiße.«
»Jesus hat dem Teufel widerstanden«, sagt Jakob.
»Guter Mann«, sagt der Vater.
Sie fahren durch die Nacht. Der Vater hat gemeint, dass die Schlittschuhe ausprobiert werden wollen. Dass es dunkel und kalt und morgen besser sei, lässt er nicht gelten, die Schlittschuhe wollen ausprobiert werden. Jakob hat sie gleich angelassen, klackend ist er zum Auto gelaufen, was gar nicht gut für den Hohlschliff ist. Die Straßen sind leer, die Fußwege auch. Das Laternenlicht ist schummrig. In manchem Fenster glänzt ein Schwibbogen, in manchem Vorgarten eine Lichterkette, in der einen oder anderen Veranda ein Herrnhuter Stern. Das ist eigentlich schön anzuschauen, aber Jakob findet es scheiße.
Er überlegt, was er spätnachts in sein neues Heft schreiben wird. Im Gegensatz zur Großmutter will er in Worte fassen können, was er denkt und sieht. Beispielsweise könnte er festhalten, dass er eine Scheißwut auf sie hat, weil sie Heilwasser trinkt, auf den Christkindlmarkt fährt, kegelt und Karten spielt. Er könnte schreiben, dass sie längst die Gräber abgedeckt haben, beim Tierarzt gewesen sind und er überhaupt nicht traurig war, als sie abgehauen ist. Nicht die Spur traurig. Weil er so eine Scheißwut auf sie hat, führt er sich vor Augen, was ihn schon immer an ihr genervt hat: Dass sie freundlich grüßte und dann übel nachredete. Dass die Unterwäsche immer frisch sein musste, doch nur, weil man einen Unfall haben und ins Krankenhaus kommen konnte. Dass sie noch jede von Vaters Freundinnen vergrault hat, auch die netten. Dass sie zu einer Erzieherin sagte, er habe nah am Wasser gebaut, oben und unten. Dass ihre Haare unbeweglich sind, und darunter ist auch alles starr, weil es nicht genug Leben in ihr gibt, nicht genug Geschichten und Erinnerungen. Manometer, wie froh er ist, dass seine Scheißgroßmutter rübergemacht ist. Soll die mal blümerant zum Christkindlmarkt fahren und zur Caritas gehen, wegen der Sache . Lange kann die darauf warten, dass er ihr bald schreiben möge, die mit ihrem Hitler-Deutsch.
Schreiben würde er nur in sein Heft. Dort würde er alles notieren. Er würde sich jeden Buchstaben vornehmen, das Himmels-V der Zugvögel, das Monogramm von den Handtüchern seiner Mutter, bestehend aus einem F und einem R, er würde was zum X und P der Grabsteine sagen, auch wenn das eigentlich nicht X und P sind, wie er mal gehört hat, vielleicht fragt er doch Kerstin. In seinem Heft wären die Buchstaben des Kinderlexikons nicht mehr wiederzuerkennen. Er würde alles neu aufschreiben und sich an jede Einzelheit erinnern, die niemand sonst sieht: an zerbeulte Tischtennisbälle im Gras, an die Schlipse seines Vaters, die wie Räucherfische im Schrank hängen, an die Größe seiner Ohren nach dem Friseurbesuch, wo die Blumen zerfetzt sind, nämlich auf seiner Tapete, wie
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