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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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aufgerissen, und zwei Beamte treten ein. Ein uniformierter Mann und eine uniformierte Frau, die einen Rock trägt. Sie salutieren. Der Mann ist hager, eine Art Bauchladen hängt über dem Koppel, die Frau, groß, blond und üppig, verbeugt sich vor ihr und vor der schlafenden Dame. Dann sagt sie: »Pass- und Zollkontrolle.« Polina stemmt sich aus dem Polster und rüttelt die Mitreisende wach. Die Dame schiebt die Schlafmaske auf die Stirn, schaut fragend zu Polina, dann zu der Zollfrau und dem Grenzer. Polina reicht dem Mann ihre Unterlagen, ihre Finger sind noch blau vom Rotkraut, der Mann breitet ihre Papiere auf seinem Bauchladen aus. Die Packzettel und die Zollerklärung gibt er an die Beamtin weiter. Nach einer Weile sagt diese: »Sind die Eier zum Verzehr?«
    Polina sieht die Frau an.
    Diese sagt: »Die sorbischen Eier. Sind die zum Verzehr?«
    »Nein«, sagt Polina, »die sind für Ostern.«
    »Wie?«, fragt die Zollfrau.
    »Für Ostern«, sagt Polina.
    »Zum Verzehr?«, fragt die Zollfrau.
    »Nein«, sagt Polina.
    »Wieso dann für Ostern?«
    »Sie sind nicht zum Verzehr.«
    »Die verfaulen doch bis Ostern.«
    »Aber die sind ausgepustet«, sagt Polina. »Da ist nichts zum Verzehren. Die sind hohl.«
    »Was machen Sie dann mit den Eiern?«
    »Man hängt sie an einen Osterstrauch. Forsythien zum Beispiel.« Sie ist sich sicher, dass Ostereier nicht auf der Verbotsliste standen. Sie sagt: »Wenn man ein Stückelchen Streichholz mit einem Zwirn umwickelt« – sie führt eine Wickelbewegung vor – »und das Holzstück so in die Öffnung tut und querlegt, dann kann man die Eier aufhängen. An Forsythienzweigen zum Beispiel. Das ergibt einen sehr schönen Strauß.«
    Der Grenzer gibt Polina ihren Pass, die Urkunde und die Ausreisegenehmigung zurück. Die Zollfrau sagt: »Zeigen Sie mir die Eier.« Die Fuldaer Dame nimmt ihren Hut vom Klapptisch.
    Polina zerrt den karierten Koffer von der Ablage, öffnet ihn, obenauf liegt der handgeschriebene Packzettel, es ist der falsche Koffer. Sie wuchtet ihn zurück. Plötzlich wird ihr klar, dass der Schaffner und die Grenzer sich nicht vor ihr und ihrer Mitreisenden verbeugt haben. Sie haben sich hinabgebeugt, um zu kontrollieren, ob sich jemand unter den Sitzen versteckt hält. Sie zieht den braunen Koffer herunter, diesmal liegt sie richtig. Sie klappt den Deckel auf, entfernt die Watte, und die Zollfrau und der Grenzer beugen sich über die Eierschachtel.
    »Die sind aber schön«, sagt der Grenzer.
    »Ja«, sagt Polina. »Es ist eine Kunst. Meine Schwiegertochter hat sie bemalt.« Vorsichtig nimmt sie ein Ei aus der Packung. Es ist dunkelviolett, von den beiden Kappen fallen hellrote Strahlen in die Mitte, um die ein Gürtel aus orangefarbenen Punkten läuft. »Mit Wachs, Speck und Farbe wird das gemacht«, erklärt sie, »und mit Federkielen und Stecknadelköpfen. Das Wachs wird nach dem Färben über einer Kerze geschmolzen, dann wird das Ei abermals gefärbt, und so weiter.« Sie setzt das Ei zurück.
    Die Zollfrau nimmt ihr den Karton aus der Hand und klappt den Deckel zu. Sie verlässt das Abteil, ohne die Tür zu schließen.
    Der Grenzsoldat lässt sich die Dokumente der Dame aushändigen. Er studiert die Papiere, vergleicht das Passfoto mit dem Original und sagt: »Nationalität?«
    »Wie es dasteht«, antwortet die Dame. »Deutsch.« Jetzt erst streift sie die Augenmaske von der Stirn.
    »Deutsch gibt es nicht«, sagt der Uniformierte. » BRD muss es heißen.«
    Die Dame sagt: »Wieso soll es deutsch nicht geben?«
    »Schreiben Sie BRD «, sagt der Beamte und reicht ihr den Schein.
    »Wir sagen deutsch«, sagt die Dame mit verschränkten Armen. »Es muss deutsch heißen.«
    »Deutsch gibt es nicht«, sagt der Mann. »Es gibt DDR , und es gibt BRD .«
    Polina klappt ihren Koffer zu. »Wie dumm kann man eigentlich sein«, sagt sie und blickt dem Grenzer ins Gesicht. »Wir sagen doch auch S-E-D.« Sie betont jeden einzelnen Buchstaben, vor allem den letzten. »Sozialistische – Einheitspartei – Deutschlands. So sagen wir doch, oder? Deutschlands!«
    Der Beamte schielt zum Gang und aus dem Fenster, dann kritzelt er schnell etwas auf das Ausreisedokument der Dame und drückt einen Stempel darauf. Ohne die Tür zu schließen, verlässt er das Abteil. Polina steht auf, macht die Tür zu, setzt sich wieder und sieht aus dem Fenster. Draußen wird ein Soldat von einem Schäferhund über das Gleisbett gezogen. Der Hund läuft geduckt, die Rute zwischen den

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