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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Beinen, und stößt ab und zu mit flachem Kopf unter einen der Waggons. Dem Hund und seinem Führer folgt einer, der etwas trägt, das wie ein Eishockeyschläger aussieht. Doch an der Stelle der Kelle befindet sich ein Spiegel. Der mit dem Spiegel überprüft, ob der Hund jemanden überrochen hat.
    »Sie sind gar nicht von uns«, sagt die Dame mit Hut. »Sie sind aus der Zone.« Ganz empört um die Nase sieht sie aus.
    Polina lächelt. Sie könnte jetzt antworten, dass auch sie einfach nur deutsch sei. Nationalität deutsch. Sie hat aber keine Lust mehr, sich mit der Dame zu befassen.
    Nach einer langen Zeit kommt die große Blonde zurück. Ohne Eierkarton, aber mit einem Formular. Man werde, sagt die Frau, die Eier überprüfen. Im Fall der Unbedenklichkeit werde man die Eier an die Eigentümerin in die BRD überstellen. »Ich wünsche Ihnen eine gute Weiterreise«, sagt sie und händigt Polina das Formular aus. Sie salutiert und verlässt das Abteil, ohne die Tür zu schließen.
    Auf dem Formular – es ist eine Hinterlegungsbescheinigung von der Zollverwaltung der DDR , Bezirksverwaltung Magdeburg, Grenzzollamt Marienborn/Eisenbahn – steht ihr Name: Polina Katharina Winter, geborene Sauer.
    In einem Bernsteinsommer vor etlichen Jahren war sie mit Jakob am Meer gewesen. Barfuß waren sie über den harten Strand gegangen. Mit den Zehen hatten sie ihre Namen in den Sand geschrieben: Lina und Jakob. Weil die Wellen die Namen ergriffen und fortzogen und nur den gewaschenen Sand übrig ließen, hatten sie es Mal für Mal wiederholt. Sie flohen vor den Wellen und ritzten ihre Namen in den weißen Sand. Sie mussten flink sein, damit wenigstens ein Namenspaar stehen blieb. Doch irgendwann waren sie erschöpft und überließen alle Silben und Schwünge dem Meer.
    In Hannover muss sie umsteigen. Grußlos verlässt sie das Abteil, ohne die Tür zu schließen. Sie schleift ihre drei Koffer aus dem Zug.
    Auf dem Bahnsteig sieht sie zwei Frauen, die von Kopf bis Fuß in schwarze Gewänder gehüllt sind. Polizisten stehen auch hier in Gruppen zusammen und rauchen, Paare umarmen sich auch hier, an einem Betonpfeiler lehnt auch hier ein Betrunkener.
    Sie bringt in Erfahrung, dass sie den Bahnsteig wechseln muss, um nach Burgkreuz und von da weiter nach Bad Itz zu fahren. Sie weiß nicht, wie sie das anstellen soll mit den drei Koffern. Sie kann höchstens zwei Koffer die Treppe hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinauftragen. In der Zwischenzeit bliebe der eine Koffer unbewacht zurück, irgendjemand könnte ihn einfach mitnehmen. Der Betrunkene zum Beispiel. Und die Polizisten achten bestimmt nicht darauf. Genauso könnte irgendjemand die beiden anderen Koffer stehlen, während sie durch den Tunnel eilt, um den zurückgelassenen zu holen. Sie stellt sich vor, wie sie die Treppe hochhetzt und völlig hilflos mitansehen muss, wie ihre Koffer auf dem anderen Bahnsteig von einem Gauner fortgetragen werden, in aller Seelenruhe. Sie könnte einen jungen Menschen ansprechen und um Hilfe bitten, zu Hause hätte sie das getan. Hätte sie nicht mal müssen: Da wäre gewiss einer gekommen und hätte ihr von sich aus seine Hilfe angeboten.
    Nacheinander trägt sie ihre drei Koffer zu einer Bank. Auf der Bank ist eine Zeitung abgelegt worden, deren große rot-schwarze Lettern sie anspringen. Sie faltet die Zeitung auf und betrachtet das Foto, das den Bundeskanzler und den Generalsekretär im Bahnhof von Güstrow zeigt: Der Bundeskanzler lehnt lächelnd aus dem Fenster des Sonderzugs nach Lübeck und nimmt vom Generalsekretär ein Hustenbonbon entgegen. Der Bundeskanzler trägt eine Schirmmütze und der Generalsekretär eine Pelzmütze.
    Ihr ist kalt. Sie hat vergessen, ihren Morgenrock einzupacken. Das Land, das hinter ihr liegt, steht jetzt in Gänsefüßchen.

5. Das unaufhaltsame Lachen
    Die Kiesgruben sind zugefroren, Nebel drücken das Land. Jemand hat Mistelballen in die Baumkronen geworfen und Perlen in die Büsche gesteckt. Krähen hüpfen über die Ackerfurchen, spreizen die Flügel, stolzieren in den Dunst, aus dem Dunst. Harscher, rußiger Schnee klumpt am Straßenrand, Splitt liegt auf den Wegen. Die Öfen ziehen schlecht, einer schreit, einer lacht. Dass es schneit, dass feuchter, frischer Schnee fällt, ist undenkbar. Zu Weihnachten schneit es nie.
    Der Vater hat sich in die Garage zurückgezogen, um den Tannenbaum herzurichten. Er bohrt Löcher in den Stamm und steckt eigens gekaufte Zweige hinein, damit der Baum

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