Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Kunde. Er studierte die Perlenschnur ihres Rückgrats, die sich ohne Unterbrechung unter ihrem Nicki abzeichnete: kein BH . Sie schwitzte offenbar nicht, sein Arsch hingegen klebte am Kunstleder. Er wartete auf ihr Gesicht und auf ihre Brüste, in dieser Reihenfolge. Als sie sich zu ihm umwandte – sie blieb in der Hocke und drehte sich auf den Sohlen –, war er nur ein bisschen enttäuscht. Er blieb sitzen, den Fuß auf der Schräge. Sie sah zu den Wildlederschuhen, ihr Kinn auf einer Linie mit seinem Nabel. »Die sollen es sein?«, fragte sie, und er nickte. Im Entengang kam sie zu ihm und band die Schnürsenkel seiner Turnschuhe auf. Dünne Silberreifen klimperten an ihren Handgelenken, als sie vorsichtig seine Wade umfasste und den ersten, dann den zweiten Schuh abzog. Er stellte seine nackten Füße auf die Auslegware, so wie jetzt, seine Zehen sind breit, kräftige Adern laufen über den Spann, im Sommer waren seine Füße braungebrannt und die Zehennägel fast weiß. Sie musterte seine Füße, er sah ihre grünen Lider und die Kränze ihrer Wimpern, dann hob sie den Blick und ließ ihn wandern, bis er in seinem Gesicht anlangte. »Für Ihre Größe haben Sie kleine Füße«, sagte sie. Ihre Stimme war einen Tick zu schmal, ihr Gesicht einen Hauch zu ordinär, sie war genau richtig. »Eine Neunundzwanzig?« Er nickte wieder. Sie holte Füßlinge, stülpte sie ihm über, zog ihm die Wildlederschuhe an, schnürte sie und sagte, er solle aufstehen. Mit ihrem rot lackierten Daumen prüfte sie, ob der Schuh genug Platz bot. »Gehen Sie ein paar Schritte.« Er ging ein paar Schritte, die Schuhe quietschten leise, seine Hose klebte am Hintern. »Da vorn ist ein Spiegel«, sagte sie, noch immer in der Hocke. Er trat vor den Spiegel, in dem er einen ihrer Arme und ein Stück ihres weiten geblümten Rocks sah. »Sie haben Glück, es ist das letzte Paar.« Das Handbuch für Verführer empfahl für eine Situation wie diese zahlreiche Eröffnungen. Die Standardfrage war so banal, dass niemand sie ernstlich in Erwägung ziehen konnte: »Fräulein, wann machen Sie Feierabend?« Zu Recht hatte Mo einmal von einer Krankenschwester darauf zu hören bekommen, dass sie immer im Dienst sei. Eine Nuance forscher, selbstgewisser war: »Was machen Sie nach Feierabend?« Dagegen war die Frage »Finden Sie auch, dass Milcheis viel besser schmeckt als Wassereis?« raffinierter und setzte eine gewisse Verspieltheit und Kombinationsgabe voraus. Eine scheinbar absichtslose Feststellung wie: »Ihr Rock passt vortrefflich zu Ihrer Frisur« war zwar dämlich, aber effektvoll. Lange hat er es nicht glauben wollen, aber Komplimente für die Frisur oder die Kleidung bringen den besten Erfolg. Mo konnte das nur bestätigen, er hat ihn oft ermahnt, diese Technik anzuwenden. »So schlicht sind sie doch nicht«, hat er zu bedenken gegeben, »das ist doch zu plump.« Aber das Gegenteil ist wahr, es gibt kein sichereres Mittel als das Geschenk eines lobenden Wortes: »Dieser Schuh macht ein schlankes Bein«, »Treiben Sie Sport?«, »Diese Bluse steht Ihnen ungemein«. Darum geht es am Ende immer: dass man ihnen das Gefühl gibt, ungemein zu sein, also nicht wie alle, nicht allgemein, sondern eben ungemein, ganz eigen und einzigartig. Am Ende geht es auch ihm darum, dass er nicht wie alle anderen sein will, dass er mehr als der Teil einer grauen Masse ist, nicht nur ein nützliches Glied der Gesellschaft, des Kollektivs, sondern sein eigener unverwechselbarer Mensch. All das in seinem Kopf hin und her wendend, jetzt und damals, an jenem heißen Sommertag vor sieben Monaten, sagte er zu der Schuhverkäuferin, die noch immer vor ihm kniete und ihn unverwandt ansah: »Ich lasse sie gleich an. Wann machen Sie eigentlich Feierabend?« Zu seiner Ernüchterung antwortete sie: »Um fünf.« Und da ist sie nun, die siebenundzwanzigjährige Almut Reinecke, schnarchend beziehungsweise kurz damit aussetzend. Sie liegt in seinem Bett, nicht unappetitlich, aber eben alles andere als ungemein. Er hat keine Angst vor ihr, er hat keine Angst um sie, er denkt nicht über die Beschaffenheit ihrer Seele nach, er liebt sie nicht. Seit Jahren sucht er sich solche Frauen, die vor ihm knien, die ihm die Schuhe aus- und anziehen, die ihm Wadenwickel machen, wenn es ihm dreckig geht, Frauen, die den »Kleinen Prinzen« mögen und sich nicht aufrichten, um ihm die Leviten zu lesen. Mein Gott, woher nimmt er nur seine Arroganz, was für ein Arschloch ist er bloß, was,
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