Das halbe Haus: Roman (German Edition)
das, was gleich kommt. Denn Vorfreude ist die schönste Freude, das gilt auch für Sadisten. Freudig erregt erwartet er den Hausherrn, der in Bademantel und Pantoffeln zum Gartentor schlurft und wissen will, womit er dienen könne – wenn das ironisch klingt, dann ist es auch so gemeint. Voss bleibt eisern. Ob er es mit Frank Friedrich, wohnhaft in der Regenstraße 27 und geboren am 17. Juni 1946, zu tun habe, fragt er. Der Hausherr kann sich nur wundern. Er sagt: »Aber Genosse Voss, das wissen Sie doch ganz genau. Seit über zwanzig Jahren schreiben Sie mich auf: Parkt zu lange auf dem Bürgersteig, flaggt nicht im Mai, nicht im Oktober, grüßt nicht, zweifelhafter Leumund, hält sich für was Besseres. Das bin doch ich, Genosse Voss, Ihr Frank Friedrich.« – »Wenn es sich tatsächlich bei Ihnen um besagte Person handelt«, erwidert Voss, »dann muss ich Sie auffordern, mir Ihren Personalausweis auszuhändigen. Beim Rat des Stadtbezirks bekommen Sie stattdessen ein vorläufiges Personaldokument, einen PM 12.« – »Genosse Voss (ja, die Ironie tut sich jetzt schwer), aus welchem Grund soll ich meinen Ausweis abgeben und ein Ersatzpapier annehmen?« – Das, so der ABV , entziehe sich seiner Kenntnis. Er habe Anweisung erhalten, und die führe er lediglich aus. So ist das ja immer: Da kommt einer, um was auszuführen, und verschanzt sich hinter einer Anweisung, hinter einem mangelhaften Kenntnisstand. – »Irrtum, Voss«, sagt der Hausherr. »Sie glauben doch nicht, dass ich Ihnen ohne Nennung von Gründen meinen Personalausweis aushändige, um mich auf eine Stufe mit Rechtlosen, mit Mördern und Kinderfickern stellen zu lassen.« Damit geht er zum Haus zurück. »Wie Sie wollen«, ruft Voss ihm nach. »Ich werde mir doch nicht die Hände an einem wie Ihnen schmutzig machen. In zwei Tagen haben Sie eine Vorladung im Briefkasten. So einfach ist das.« – »Voss, Sie sind ein Untertan«, ruft er, schon den Türknauf in der Hand. Warum, zum Teufel, hat er sich noch einmal umdrehen und das Maul aufmachen müssen? Er benimmt sich wie ein trotziger Junge, der seine überzogenen Forderungen mit Zeter und Mordio durchsetzen will. Doch seine Forderungen sind nicht überzogen, er fordert nichts, was ihm nicht zusteht. Er will nur sein gutes Recht, aber sein Zorn blamiert ihn, sein Zorn denunziert sein gutes Recht, so sieht es doch aus. Auch Voss hat sich im Ton vergriffen, aber am Ende geht er als Sieger vom Feld. Er salutiert lächelnd und sagt: »Der Untertan wünscht dem Herrn Friedrich noch einen angenehmen Tag.« Nun thront auf dem Wort »Herr« die Ironie, triumphierender und selbstgerechter, als sie eben noch auf dem Wort »Genosse« gehockt hat. Diese Ironie sagt doch schon alles: Dass er eigentlich kein Herr ist, kein Bürger, dass sie mit ihm machen können, was sie wollen. Noch dringen sie nicht in sein Haus ein, aber lange wird es nicht mehr dauern. Er ist ein Niemand im Bademantel, und im Zimmer dieses Niemands ist es plötzlich still: Das Schnarchen hat aufgehört. Für einen Moment ist es ganz ruhig, dann regt sie sich, dreht den Kopf zur Seite und wendet sich zur Wand. Sie strampelt kurz und heftig mit den Beinen, bis ein Bein frei liegt, Rücken und Hintern sind entblößt. Geräuschlos schläft sie weiter. Die Rundungen ihres Hinterns und ihrer Schenkel fordern für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit, und er denkt, dass er sich Erleichterung verschaffen könnte. Er könnte Hand an sich legen, oder er könnte Hand an sie legen. Er könnte versuchen, sie im Halbschlaf zu erregen, und dann könnte er sich und ihr ein wenig Erleichterung verschaffen. Aber da fällt ihm wieder ein, dass er gestern fremde Weiber angefasst hat, vor ihren Augen, dass er sich wie ein großes Schwein benommen hat, womit er zwar prächtig in diesen riesigen Schweinestall passt, jedoch das Recht verloren hat, sie anzufassen. Wie simpel und unbeschwert war doch alles, als er sie traf, vor nunmehr sieben Monaten. Nach Leder und Schuhcreme roch der Laden, ein Ventilator zerschnitt die heiße Luft, Jakob war im Ferienlager, die Stadt war träge und leer wie der Laden. Er nahm ein Paar Wildlederschuhe aus dem Regal und setzte sich auf die kunstlederne Bank des privat geführten Geschäfts, das ein erstaunliches Sortiment bot. Einen Fuß auf die Schräge gestellt, beobachtete er die Verkäuferin, die mit dem Rücken zu ihm am Boden kniete, Schuhe in knisterndes Papier einschlug und in Kartons verstaute. Er war der einzige
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